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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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Termine vereinbaren, bevor sie in den Laden kamen, und dann mussten Beattie und die anderen Assistentinnen sie bedienen, als gehörten sie zur königlichen Familie. Manchmal war das tatsächlich der Fall, und vermutlich lebte Antonia in der ständigen Angst, etwas falsch zu machen, und war deshalb so unerträglich. Beattie störte es nicht, weil sie das Geschäft liebte. Die Stangen voller Kleider, den Boden mit dem Schachbrettmuster, die Anproberäume im Untergeschoss, die von Kronleuchtern erhellt wurden, und den gelben Kanarienvogel im schmiedeeisernen Käfig, der durch das Erkerfenster auf die Straße blickte. Er hieß Rex. Lorna, eine der Assistentinnen, hatte erzählt, dies sei schon der vierte gelbe Kanarienvogel namens Rex, den Antonia ins Fenster gesetzt hätte. »Wenn einer stirbt, kauft sie am nächsten Tag einen neuen. Sie mag es nicht, wenn ihre Kundinnen an den Tod erinnert werden, obwohl er natürlich jeden trifft. Hochnäsige Kühe.«
    Einige Kundinnen mochte Beattie, andere hasste sie aus tiefster Seele. Die schlimmste war Lady Miriam Minchin, eine zaundürre Frau von Mitte vierzig, die mit freundlichen Worten geizte, für sich selbst aber das Geld mit vollen Händen ausgab. Beattie bediente an diesem Morgen ausgerechnet diese Kundin, als sie den ersten schmerzhaften Stich in der linken Seite spürte.
    Zuerst ignorierte sie den Schmerz, holte ein Kleid nach dem anderen von den Stangen und eilte damit nach unten in die Anprobe. Ihr Herz nahm den Rhythmus der Stiche auf, Hoffnung durchflutete sie: Endlich war es so weit. Die heißen Bäder, der Lebertran und das innige Wünschen hatten endlich funktioniert. Gleichzeitig aber bekam sie Angst. Wenn es nun weh tat? Wenn es schmutzig war? Wie sollte sie bei der Arbeit diskret damit umgehen?
    »Das Blaue steht Ihnen gut«, sagte Antonia zu Lady Miriam, während Beattie sich zur Ruhe zwang. »Was meinst du, Beattie?«
    »Der Schnitt ist wunderbar. Und die Farbe schmeichelt Ihrer Haut …« Ein Schmerz schoss tief in ihren Unterleib, so dass sie unwillkürlich keuchte und ihren Bauch umklammerte.
    »Was ist los, Beattie?«, fragte Antonia in scharfem Ton.
    »Ich habe … Schmerzen …« So sollte es nicht sein! Sie musste leise und rasch zu Hause bluten, wo ein Badezimmer in der Nähe war. Niemand durfte es erfahren.
    Einen Moment lang wanderten Lady Miriams Augen von Beatties Gesicht zu ihrem Bauch und wieder zurück. Beattie zuckte zusammen. Lady Miriam wusste Bescheid.
    »Ich muss nach Hause«, stieß Beattie hervor und lief zur Treppe.
    »Warte, Mädchen!«, sagte Antonia panisch, weil sie fürchtete, Beattie könne einen schlechten Eindruck auf die Kunden machen.
    »Lassen Sie sie«, sagte Lady Miriam.
    Sie entkam. Die Treppe hinauf und aus dem Modesalon auf die verregnete Straße.
    Eine Sekunde später war der Schmerz verschwunden. Sie holte tief Luft.
    Nach Hause, sie musste nach Hause. Sie war schon drei Häuserblocks gegangen, als sie merkte, dass sie ihren Mantel vergessen hatte. Gänsehaut überzog ihre Arme. Die feuchte graue Straße erstreckte sich unter ihren Füßen, und ihr Atem war lauter als der Verkehrslärm.
    Da war er wieder, der Schmerz. Hart und spitz, er schien sie zu zerreißen. Sie zwang sich, tief einzuatmen, so konnte sie nicht nach Hause gehen. Pa würde sie sehen, und außerdem brauchte sie einen Arzt.
    Sie stellte sich unter eine Markise und versuchte, klar zu denken. Für einen Arzt hatten sie kein Geld, das hatte Ma heute Morgen betont. Dann fiel ihr ein, wie sich Henry und Billy Wilder einmal im Club geprügelt hatten, weil sie zu betrunken waren, um ihre Scherze als solche zu erkennen. Billy hatte ein Glas auf Henrys Kopf zerschlagen, und die Wunde hörte nicht auf zu bluten. Henry hatte ein Taschentuch dagegengedrückt und sich zusammen mit dem zerknirschten Billy um Mitternacht zu Dr. Mackenzie in die West George Lane begeben. Dieser hatte Henry vor dreißig Jahren auf die Welt geholt und war seither der Arzt der Familie. Wenn sie ihn um Hilfe bat, sich ihm auf Gedeih und Verderb auslieferte, ihm sagte, das Kind, das sie verlöre, sei von Henry …
    Aber die Scham, die Schwierigkeiten, die Henry bekommen würde.
    Der Schmerz war zu groß, sie brauchte Hilfe. Sie drehte sich um und lief in Richtung West George Lane. Die Wolken über ihrem Kopf wurden dunkel, und das Nieseln wurde stärker. Harte, kalte Tropfen, die in die Gosse strömten und aufspritzten, wenn Autos vorbeifuhren. Sie hielt sich dicht bei den Gebäuden,
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