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Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm
Autoren: Johan Theorin
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WINTER 1846
    Mein Buch, liebe Katrine, beginnt in jenem Jahr, in dem Hof Åludden erbaut wurde. Für mich ist dieser Hof immer mehr gewesen als nur das Haus, in dem ich mit meiner Mutter gelebt habe. Es war der Ort, an dem ich erwachsen wurde.
    Der Aalfischer Ragnar Davidsson erzählte mir damals, dass die Gebäude zu großen Teilen aus der Ladung eines Schiffswracks, eines deutschen Holztransporters, errichtet wurden. Ich glaube ihm das. Auf einem Dachbalken an der Stirnseite der Scheune sind die Worte IN GEDENKEN AN CHRISTIAN LUDWIG eingeritzt.
    Ich habe die Toten in den Wänden flüstern hören. Sie haben so viel zu erzählen.
    Valter Brommesson sitzt in einem kleinen Steinhaus auf Åludden und betet mit gefalteten Händen. Er betet, dass der Wind und die Wellen, die in dieser Nacht über die Küste fegen, seine Leuchttürme nicht zerstören mögen.
    Er kennt sich mit schlechtem Wetter aus, aber so einen Sturm hat er noch nie erlebt. Eine weiße Wand aus Schnee und Eis treibt aus Nordost heran, und alle Bauarbeiten mussten eingestellt werden.
    Die Türme, Herr, lass sie uns bitte fertigstellen … 
    Brommesson ist Leuchtturmbauer, aber für ihn ist es das erste Mal, dass er einen Linsenleuchtturm an der Ostsee errichtet. Er war im März auf Öland angekommen und hatte sich sofort an die Arbeit gemacht: eine Mannschaft zusammengestellt, Ton und Kalkstein bestellt und starke Zugpferde angemietet.
    Den frischen Frühling, den warmen Sommer und den sonnigen Herbst an der Küste hatte er genossen. Die Arbeit ging zügig voran, und die beiden Leuchttürme wuchsen in den Himmel.
    Doch dann verschwand die Sonne, es wurde Winter, und mit den sinkenden Temperaturen begannen die Leute von dem großen Sturm zu sprechen. Und dann kam er, der Nebelsturm. Eines späten Abends warf er sich wie ein Raubtier über die Küste.
    Erst in den Morgenstunden flaut der Wind endlich ab.
    Da sind plötzlich Schreie vom Meer her zu hören. Sie kommen aus der Dunkelheit vor Åludden – endlose, markerschütternde Schreie in einer fremden Sprache.
    Die Schreie schrecken Brommesson aus dem Schlaf. Sofort weckt er die erschöpften Bauarbeiter.
    »Da ist ein Schiff gestrandet«, ruft er ihnen zu. »Wir müssen runter ans Wasser.«
    Die Männer sind schlaftrunken und unwillig, aber er treibt sie an, hinaus in den Schnee.
    Mit gebeugten Rücken stemmen sie sich gegen den eiskalten Wind und stapfen hinunter an den Strand. Mit einem Blick zur Seite sieht Brommesson, dass die beiden halb fertigen Steintürme unbeschädigt am Wasser stehen.
    In die andere Richtung, nach Westen, ist nichts zu erkennen. Die flache Landschaft der Insel ist zu einer hügeligen Schneewüste geworden.
    Die Arbeiter stehen am Strand und starren auf das Meer.
    Aber sie können in den dunklen Schatten auf Höhe der Sandbank nichts erkennen. In das Brausen der Wellen mischen sich noch immer schwächer werdende Schreie – und das knirschende Geräusch herausspringender Nägel und zerberstender Planken.
    Ein großes Schiff scheint auf der Sandbank auf Grund gelaufen zu sein und zu sinken.
    Die Arbeiter können nur dastehen und den Geräuschen und Hilferufen lauschen. Dreimal versuchen sie, eines ihrer Boote zu Wasser zu lassen, es gelingt ihnen jedoch nicht. Die Sicht ist zu schlecht und die Brandung zu hoch, zudem treiben zahllose massive Holzbretter im Wasser.
    Das gestrandete Schiff muss eine enorm große Ladung Holz an Deck gehabt haben. Als es zu sinken begann, haben die Wellen die Bretter losgerissen und ins Meer gespült. Sie sind so lang wie Stoßbalken und treiben wie riesige Flöße an Land. In den Buchten an der Landzunge von Åludden drängen sich die Bretter, stoßen und reiben aneinander.
    Bei Sonnenaufgang, der sich hinter einer grauen Wolkendecke versteckt, entdecken sie die erste Leiche. Nur etwa zehn Meter vom Ufer entfernt treibt ein junger Mann in den Wellen. Seine Arme sind weit ausgestreckt, so als habe er in einem letzten verzweifelten Versuch nach einem der Balken gegriffen.
    Zwei der Arbeiter staken hinaus ins seichte Wasser, packen seine grobe Wolljacke und ziehen den leblosen Körper über den sandigen Untergrund an Land.
    Sie wollen ihn an den Handgelenken fassen, aber der Tote ist groß und breitschultrig und schwer zu tragen. Gemeinsam zerren sie ihn an den schneebedeckten Strand.
    Die Bauarbeiter versammeln sich schweigend um den Toten, ohne ihn zu berühren.
    Schließlich überwindet sich Brommesson und dreht den Leichnam auf den
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