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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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Augenbrauen hoch. »Verstehe.«
    »Danke.« Sie tat, als wäre alles in Ordnung, und stieg von der Liege. »Ich möchte Sie nicht länger belästigen …« Doch dann wurde sie erneut von den Tränen überwältigt, und er setzte sie entschlossen auf einen Stuhl und reichte ihr sein Taschentuch.
    »Sie sind nicht verheiratet, oder?«
    »Nein.«
    »Weiß der Vater Bescheid?«
    Sie dachte an Henry und dass Dr. Mackenzie ihn schon als kleinen Jungen gekannt hatte. »Noch nicht.«
    »Sie müssen es ihm sagen.« Seine Stimme wurde sanft. »Sie haben ein Baby im Bauch, Kleines. Er oder sie ist schon seit drei Monaten dort drinnen. Die Aussicht auf eine Fehlgeburt ist jetzt sehr gering. Verstehen Sie, was ich sage? Es gibt keinen anderen Weg. Sie müssen es ihm erzählen.«
    Sie drückte ihre Zehen fest in die Schuhe. »Er ist verheiratet«, stieß sie hervor.
    Er presste die Lippen zusammen, so dass sie hinter seinem Bart verschwanden. »Verstehe.«
    »Soll ich es ihm trotzdem sagen?«
    »Mädchen, ich glaube, Sie haben keine andere Wahl.«
     
    Die Wolken hatten sich verzogen, der Regen war zu einem Nieseln geworden. Beattie kehrte zum Modesalon zurück, um sich bei Antonia zu entschuldigen und irgendwie ihre Stelle zu retten. In diesen Zeiten durfte man nicht arbeitslos werden. Alle redeten von der Krise; selbst die großen Schifffahrtsgesellschaften wollten niemanden mehr einstellen. Beattie wusste, dass sie betteln musste. Sie klingelte an der Tür und spähte durchs Erkerfenster. Antonia tauchte aus dem Keller auf. Als sie Beattie sah, verzog sie das Gesicht.
    Sie öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. »Was ist los?«
    »Ich wollte mich entschuldigen, ich …«
    »Du siehst aus wie eine nasse Katze. Mädchen wie dich will ich in meinem Geschäft nicht haben, Beattie Blaxland. Ich habe einen Ruf zu wahren.«
    »Ich gehe nach Hause, ziehe mich um und komme sofort zurück.« Sie merkte, dass sie hoffnungslos und verzweifelt klang.
    »Umziehen? Damit änderst du aber nicht, was du bist. Lady Miriam hat mir die Augen geöffnet. Du erwartest ein Kind und bist nicht verheiratet. Und es heißt, dass du dich mit Henry MacConnell herumtreibst. Ist das sein Balg? Er hat schon eine Frau, falls du das nicht wusstest.«
    »Bitte, Antonia«, flehte Beattie verzweifelt. »Ohne meinen Lohn kommen wir nicht zurecht. Meine Familie ist …«
    »Das hättest du dir früher überlegen sollen. Ein Dutzend Mädchen bettelt jeden Tag bei mir um eine Stelle, und keins von ihnen ist schwanger. Ich habe die freie Auswahl. Warum sollte ich ausgerechnet dich behalten?«
    »Bitte … bitte!«
    »Lady Miriam hat erklärt, dass sie erst dann wieder ins Geschäft kommen wird, wenn du nicht mehr da bist. Ich muss an mein Unternehmen denken.«
    Beattie schluckte schwer. Sie musste so niedergeschlagen ausgesehen haben, dass Antonia einen Moment lang weichwurde.
    »Es tut mir leid, Kind.« Sie sprach leise und konnte Beattie dabei nicht in die Augen sehen. »Aber du wirst keinen Fuß mehr in meinen Laden setzen.« Mit diesen Worten schloss sie die Tür.

[home]
    Drei
    E inatmen, ausatmen.
    Beattie stand vor dem Club auf der Straße. Heute Abend würde sie es Henry sagen. Ihr Atem wogte als dünner Nebel vor ihrem Gesicht. Ihr Bauch juckte vor Aufregung. Sie versuchte zu verstehen, weshalb sie sich vor ihm fürchtete. Er liebte sie, jedenfalls sagte er das. Er würde zu ihr stehen. Er würde nicht wütend sein … oder doch? Sie hatte sich besondere Mühe mit ihrem Make-up gegeben, die Augen sanft und dunkel geschminkt, die Lippen rot und geschwungen. Wenn sie hübsch genug war, würde er nett zu ihr sein. Mitleid mit ihr haben.
    Und doch, wie war es so weit gekommen, weshalb sehnte sie sich nach Mitleid? Sie war immer stolz auf ihre großen Träume gewesen, ihr lautes Lachen, ihre freche Lässigkeit. Als sie auf der Straße stand, umgeben von den Gerüchen nach gebratenem Fleisch und Zigarettenrauch, die aus dem Restaurant drangen, begriff sie entsetzt, dass all das nur Schau, nur kindliche Angeberei gewesen war. Natürlich war es einfacher, über große Pläne zu sprechen, als sie zu verwirklichen. Es war einfach, es mit Coras scharfem Witz und ihrem unverfrorenen Selbstbewusstsein aufzunehmen, wenn man eine Menge getrunken hatte. In Wirklichkeit aber war sie die unbeholfene, dünne und arme Tochter einer unerträglich schwachen Mutter und eines törichten, idealistischen Vaters. Die Erkenntnis traf sie mit solcher Wucht, dass sie beinahe
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