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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung
Autoren: Kimberley Wilkins
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albern es wäre, sich jetzt zu widersetzen. Es war ohnehin zu spät. Das Kind war in den Brunnen gefallen, wie ihr Vater sagen würde.
    Ihr Vater.
Scham und schlechtes Gewissen schlugen wie eine Welle über ihr zusammen.
    »Beattie?«, fragte Henry mit sanfter Stimme, während sich seine Hände wie Eisen um ihre Knie schlossen.
    »Ja, ja«, flüsterte sie. »Natürlich.«
     
    Beatties Haut war rosig vom heißen Wasser, als sie sich in dem muffigen Badezimmer anzog. Eine Woche war vergangen, doch die heißen Bäder brachten ihr nur misstrauische Blicke der Nachbarin Mrs. Peters ein. Als sie in die Wohnung zurückkehrte, saß ihr Vater schon am Küchentisch vor der Schreibmaschine. Trotz der kühlen Luft schimmerte Angstschweiß auf seinem Nasenrücken. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Pa zuletzt entspannt gewirkt hatte. Jeden Tag zog er sich mehr in sich zurück wie eine Spinne, die ihre Beine einzieht, weil sie im Sterben liegt. An der Leine unter der Küchendecke hing Wäsche. Ma schlief noch hinter dem Vorhang, der den Wohn- vom Schlafbereich trennte.
    »Frühaufsteher, was?«
    Er blickte auf und lächelte. »Das Gleiche könnte ich zu dir sagen«, erwiderte er mit seinem geschliffenen englischen Akzent. Mas Schottisch war dichter als der Nebel von Glasgow, und Beattie lag irgendwo zwischen den beiden. »Du bist spät aus dem Restaurant gekommen, und jetzt machst du dich schon wieder auf den Weg zur Arbeit.«
    Beattie arbeitete seit drei Wochen in Camilles Modesalon in der Sauchiehall Street. Vorher war sie in der Kleiderabteilung des Poly gewesen, eines Kaufhauses, in dem die Kunden geringere Ansprüche stellten, die Kleider aber auch viel weniger schön waren. Bei Camille wurde die neueste Mode vom Kontinent angeboten, und nur die reichsten Frauen von Glasgow kauften dort ein: die Ehefrauen und Töchter der großen Reeder und Eisenbahnmagnaten. Beattie beobachtete immer wieder, wie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, fünfzig Pfund oder mehr für ein Kleid ausgaben, während sie selbst mit vier Shilling pro Woche nach Hause ging.
    »Du musst nicht mehr lange doppelt arbeiten«, sagte ihr Vater und rückte die Brille zurecht. »Ich bin sicher bald fertig.«
    »Es macht mir nichts aus.« Sie verspürte ein schlechtes Gewissen. Pa wäre entsetzt, wenn er wüsste, dass sie im Club arbeitete und Trinkgelder von Männern bekam, die sie hübsch fanden. Oder dass Henry ihr nach einem guten Abend ein paar Pfund zusteckte. Er hielt sie für ein respektables Mädchen, das überdies noch Jungfrau war.
    Er wandte sich wieder der Arbeit zu.
Klapper, klapper, klapper …
Es tat ihr in der Seele weh, wenn sie ihn so dasitzen sah, von seinem schlechten Gewissen geplagt. Vor einem Jahr war alles noch ganz anders gewesen. Pa war Professor für Naturgeschichte am Londoner Beckham College gewesen. Sie waren nicht wohlhabend, aber glücklich und zufrieden, und lebten in einer ordentlichen Wohnung mit einem winzigen Garten, die dem College gehörte und in die nachmittags die Sonne schien. Für Beattie war das Leben in London aufregend gewesen, denn sie stammte aus der kleinen Grenzstadt Berwick-upon-Tweed. Pa war jedoch ein überzeugter Atheist, obwohl Ma dies als schottische Protestantin durchaus nicht gutheißen konnte, und hatte alsbald den Unmut des neuen katholischen Dekans erregt. Zwei Monate später hatte er seine Stelle und damit auch die Wohnung verloren.
    Sie wollte gerade hinter den Vorhang treten, ihr Bett wegrollen und die Schuhe suchen, als Pa sagte: »Gib auf dich acht, Beattie, Liebes.«
    Überrascht hielt sie inne. Ihr Vater zeigte selten echte Zuneigung, und dieses eine kleine Wort –
Liebes
 – traf sie ins Herz. Sie kehrte an den Tisch zurück und setzte sich ihm gegenüber. Sie hatte sein dunkles Haar und die blauen Augen geerbt, zum Glück aber nicht die ausgeprägte Nase und den schmalen Mund. In diesem Moment war er für sie der Mann, der er immer gewesen war: ein Fremder an ihrer Seite, ein Mensch, den sie kannte und doch wieder überhaupt nicht. Wegen Geldmangels waren sie von London nach Glasgow gezogen, wo Beatties Großmutter mütterlicherseits sich in selbstgerechtem Mitleid ergangen hatte. Niemand hatte Pa eine neue Stelle als Dozent angeboten, doch er weigerte sich, eine andere Arbeit anzunehmen. Er hielt an der Vorstellung fest, dass sein Intellekt irgendwann triumphieren würde. Daher arbeitete er weiter an seinem Buch, davon überzeugt, dass ein Verleger es kaufen und eine Universität
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