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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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Allmählich müssen die Badegäste glauben, daß der Treibsand regelmäßig Motorradfahrer verschlingt, die dafür gestraft werden, daß sie nicht auf den Rat der erfahrenen Fischer hören wollten …
    Wenn die Badegäste erst einmal angefangen haben, die verschwundenen Motorradfahrer zu zählen, schließen sie leider daraus, daß man ihnen einen Bären aufbinden will und daß es mit dem Treibsand ebensowenig auf sich hat wie mit der berühmten Seeschlange. Aber die Gefahr besteht, und jeder kann die Erfahrung selbst und zum eigenen Schaden machen. Man soll sich nicht hinauswagen, wenn man keinen Führer bei sich hat, der den Treibsand erkennt. Geht man in Gruppen ohne Führer, so muß man zum mindesten die Vorsicht üben, die Raymond so verständig seinen Kameraden anbefahl.
    Er ging langsam und prüfte vor jedem Tritt die Festigkeit des Sandes, bevor er den Fuß darauf setzte. Mehrmals sank er bis zum Knöchel ein und zögerte, ob er sich weiterwagen sollte.
    In einer halben Stunde legten sie fast die Hälfte des Weges nach Genêts zurück. Das Dorf rückte immer näher; man sah schon die Kinder am Strand spielen. Plötzlich, in einem Moment, wo er am wenigsten darauf gefaßt war, fühlte Raymond seinen Fuß unter sich wegsacken, so jäh, daß er unwillkürlich einen Schritt vorwärts tat, um sich wieder zu fangen. Im nächsten Augenblick waren beide Beine bis zur Wade eingesunken.

    Hinter ihm ertönten Schreckensschreie. Er fühlte, wie eine geheimnisvolle Kraft nach ihm griff und ihn zur Tiefe zog. Ohne sich zu besinnen, knickte er in den Knien ein und warf sich dann mit ausgestreckten Armen auf den Rücken. Pierre ergriff seine Hände und riß ihn nach rückwärts. Sofort hörte der Sog auf; trotzdem kostete es Raymond große Anstrengung, wieder hochzukommen.
    Nun waren sie also doch auf Treibsand gestoßen. Es war gar nicht einfach, das gefährliche Gebiet zu umgehen. So genau sie den Sand untersuchten, sie entdeckten keinen Unterschied zwischen den Stellen, wo er festen und wo er unsicheren Grund bedeckte. Raymond bewegte sich mit äußerster Vorsicht; sowie der Boden auch nur ein wenig nachgab, zog er den Fuß zurück und schlug eine andere Richtung ein. Nach einer weiteren halben Stunde merkten sie, daß sie sich durch dieses Hin und Her von Genêts eher entfernt hatten, statt dem Dorfe näher zu kommen.
    Da brach ein neues Schrecknis über sie herein: Eine Nebelbank glitt über den Strand und hüllte sie ein; binnen wenigen Sekunden hatten sie Tombelaine wie die Küste aus den Augen verloren. Das ist der unangenehmste Zwischenfall, der sich dort an der Küste ereignen kann. Selbst die Fischer fürchten ihn, vor allem bei nahender Flut. Sie konnten jetzt nur noch auf gut Glück weitergehen. Raymond bemühte sich, die Hauptrichtung einigermaßen beizubehalten; da er aber immer wieder Stellen mit Treibsand ausweichen mußte, verlor er bald jedes Orientierungsvermögen. Am liebsten wäre er stehengeblieben, aber das konnte bei den anderen eine Panik auslösen. Wenn sie weitergingen, bestand ja auch die Hoffnung, schneller aus der verwünschten Nebelbank herauszukommen. Aber sie kamen nicht heraus, und Raymond konnte seine Unruhe schließlich nicht mehr verbergen. Woher sollten sie wissen, ob sie nicht mittlerweile der Flut genau entgegenwanderten?
    „Wir könnten rufen“, schlug Pierre vor. „Womöglich befinden wir uns schon in der Nähe der Küste. Vielleicht sind Leute da, die Anwort geben. Dann könnten wir uns nach den Stimmen orientieren.“
    „Schön, versuchen wir es!“ willigte Raymond ein.
    Er holte tief Luft und schrie aus voller Kehle:
    „Hallo! Haallooh!“
    Es schien ihm, als erstickte der Nebel seine Stimme. Er wartete ein paar Sekunden und wollte eben mit äußerster Kraft wieder einsetzen. Aber da geschah etwas so Unfaßbares, daß Raymonds schon zum Schrei geöffneter Mund aufgesperrt und stumm stehenblieb. Ein Geheul war an ihre Ohren gedrungen:
    „Urra — a — uh!“
    Der Ruf des Stammes! Wie ein Mann erwiderten alle fünf Meerkatzen begeistert den Schrei und rannten dorthin, woher er nun wieder und wieder erscholl. Als sie später daran zurückdachten, mußten sie zugeben, daß sie alle Vorsicht vergessen hatten. Wie leicht hätten sie zu guter Letzt noch in Treibsand geraten können!
    Es war kein Treibsand da, aber es gab doch noch einen unerwarteten Aufenthalt: Plötzlich waren sie von großen weißen Vögeln umringt, die sich mit wilden Schnabelhieben auf ihre Waden
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