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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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Raymonds Fußknöchel. Der Junge verlor das Gleichgewicht und brach in die Knie. Augenblicklich fühlte er, wie die kräftigen Saugnäpfe sich an seine beiden nackten Arme hefteten und ihn an jeder Bewegung hinderten. Da fiel ihm ein, was er die Fischer am Mittelmeer hatte tun sehen. Er beugte sich vor und biß in das Fleisch des Tieres. Während er es so zwischen den Zähnen hielt, schleuderte er mit einem Ruck den Kopf zurück und riß damit einen Fleischlappen oberhalb der Augen des Tieres ab. Fast im gleichen Augenblick sahen die Meerkatzen, die den Zweikampf mit entsetzten Gesichtern verfolgten, wie die Fangarme ihre Umklammerung lockerten und weich wurden. Raymond stand auf und befreite sich von den Saugarmen, die noch immer an ihm hafteten. Sie hatten auf der Haut ihre Spuren zurückgelassen. Es sah aus, als habe man Raymond unzählige Schröpfköpfe angesetzt.
    Der Tintenfisch auf dem Sande regte sich noch, aber nur kraftlos und mit unzusammenhängenden Bewegungen. Die Fangarme wogten auf und ab wie ein Schlangenknäuel; die Haut wechselte die Farbe und war jetzt grau und rosa schattiert.
    Wenn ein Tintenfisch schmecken soll, muß man ihn ordentlich klopfen, sonst bleibt das Fleisch lederhart. Die Jungen hoben das Tier, das kaum mehr ein Lebenszeichen von sich gab, auf den Felsblock, der sein Schutzdach gewesen war.
    „Sag mal, Raymond“, fragte Suzanne, sehr beeindruckt vom Mut des Kameraden, „wie hast du das gemacht, daß er auf einmal keine Kraft mehr hatte?“
    Raymond wies auf den dicken Fleischmantel, der den Leib des Tintenfisches stellenweise überdeckt.
    „Wenn man diesen Fleischfetzen hier abreißt, zertrennt man einen lebenswichtigen Nerv. Das Tier erlahmt fast augenblicklich, dann stirbt es.“
    Die Meerkatzen zogen jeder eine Sandale aus und klopften den toten Tintenfisch gute zehn Minuten lang mit derselben Hingabe, wie Waschfrauen ihr Leinen bearbeiten. Es wurde ihnen warm dabei. Dann machten sie das Tier kochfertig und stiegen, mit der prächtigen Beute beladen, wieder zum Lagerplatz hinauf. Der ausgenommene Tintenfisch wog immer noch gute vier Pfund. Sie mußten ihn zerteilen und in einzelnen Stücken in die drei vorhandenen Kochgeschirre legen. Das Wasser kam auf dem Farnkrautfeuer schnell zum Sieden. Während Suzanne den Küchendienst übernahm, durchstreifte Raymond die nähere Umgebung und kam mit einer Handvoll Kräuter zurück. Thymian und wilder Knoblauch würzten die Brühe.
    Es bedurfte seiner ganzen Autorität, um durchzusetzen, daß das Mahl nicht vor Ablauf von zwei Stunden vom Feuer genommen wurde. So lange braucht ein Tintenfisch zum Garwerden. Gerade als Suzanne anrichten wollte, erscholl triumphierend der Meerkatzenruf, und Pierre erschien, in jeder Hand ein Kaninchen. Die armen Tiere waren mit menschlicher Hinterlist wenig vertraut und hatten sich schnell in den Schlingen gefangen. Auf die mageren folgten die fetten Jahre!
    Das Wild wurde abgezogen und begann zu braten, während sie sich über den Tintenfisch hermachten. Alle erklärten, daß er ausgezeichnet schmecke, besser als Hummer und Langusten. Der ausgestandene Hunger mochte das Seine dazu beitragen … Sie ließen sich die Zeit, die beiden Kaninchen sachgemäßer zu braten als den Artgenossen aus dem unterirdischen Gang. Nach beendetem Festmahl fühlten die Meerkatzen sich endlich rundherum satt. Es war drei Uhr nachmittags geworden. Durch den weißen Nebelschleier schien die Sonne so warm, als sei der Himmel blau und klar. Ein Mittagsschläfchen würde ihnen guttun.
    Das Mittagsschläfchen dauerte bis zum Abend. Das Tageslicht schwand dahin, die Dämmerung umhüllte Tombelaine. Wieder wurde ein Feuer entfacht, wieder begannen sie, zu reden, sich zu erzählen, begleitet vom Rauschen des Meeres, das aufs neue die Insel umbrauste.
    „Tombelaine kann nicht immer so eine einsame Wildnis gewesen sein“, sagte Suzanne. „Sonst säßen wir hier nicht an einer zerfallenen Mauer.“
    Wenn sie das Gebüsch genauer durchforscht hätten, würden sie auch noch andere Spuren aus vergangenen Zeiten entdeckt haben. Die Geschichte Tombelaines ist ebenso alt wie die des Mont Saint-Michel. Als beide noch verlorene Felsenhügel mitten im Walde waren, pflückten die keltischen Druiden hier Misteln von den Eichen. Viel später, als das Meer den Wald längst überflutet hatte, wurde eine Kapelle errichtet, und Mönche bewohnten die Insel. Während des Hundertjährigen Krieges nahmen die Engländer Tombelaine ein und belagerten von
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