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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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ein dicker gelber Seeaal sein Maul mit den drohenden Zähnen.
    Sie bestaunten den Fang in Muße, als sie zum Lagerplatz zurückgekehrt waren und ihre Beute auf einer Farnkräuterschicht ausgebreitet hatten. Alle Mann begaben sich an das Geschäft des Schuppens und Ausnehmens. Ein Fischgericht eigener Erfindung wallte bald in den Kochgeschirren. Suzanne hatte daran gedacht, eine Feldflasche mit Seewasser zu füllen, bevor das Becken sich leerte. Damit würzte sie die Suppe und fügte Thymian, Knoblauch und andere Kräuter hinzu, die Pierre gesammelt hatte.

    Mitternacht war lange vorüber, als sie ihr Mahl beendet hatten. Der Mond stand jetzt hoch über ihnen und warf sein silbernes Licht über die weite Sandebene, die am Horizont von dem feinen glitzernden Strich des weit zurückgefluteten Meeres begrenzt wurde.
    Die Meerkatzen waren munter; sie hatten den Nachmittag über zu gut geschlafen. Sie unternahmen einen Erkundungsgang durch die Büsche nach der dem ,Mont‘ entgegengesetzten Seite. Vom Felsenrand aus sahen sie die ganze Küste vor sich liegen, von der Bretagne bis zur Pointe de Carolles. Hoch oben flimmerte Avranches mit tausend Lichtern. Suzanne dachte, daß mitten darunter auch eines in ihrem Hause brannte … Weiter unten, ganz nahe, unterschied man das Dorf Genets.
    „Warum können wir eigentlich nicht gleich losgehen?“ fragte Jacques. „Es ist Ebbe, und ganz hell ist es auch. In einer Stunde könnten wir in Genets sein!“
    „Nein“, sagte Raymond. „Dem Mondlicht ist nicht zu trauen. Ihr dürft nicht vergessen, daß wir nicht in Treibsand geraten wollen. Wir gehen nach der nächsten Flut, sobald der Strand wieder frei ist. Also morgen vormittag gegen elf Uhr.“
    Schritt für Schritt kehrten sie zu dem noch leise glimmenden Farnkrautfeuer zurück und schliefen unter dem Sternhimmel ein

X. Kapitel
    IM KAMPF MIT DEM SANDE
    „Wie ist das Wetter?“ murmelte Suzanne, als sie die Augen aufschlug.
    „Herrlich!“ antwortete Pierre. „Nur ein klein bißchen Nebel, aber er nimmt nicht die Sicht. Wir sind gerettet!“
    Er war als erster aufgestanden, hatte Wasser von der Quelle geholt und Feuer gemacht. Leider war nur noch ein knapper Löffel gemahlener Kaffee in der Büchse, und die Meerkatzen mußten sich mit einem nur schwach gefärbten Morgentrank begnügen. Dann nahmen sie Abschied von ihrem Lager auf Tombelaine und stiegen den kürzesten Weg zum Strande hinunter. Die Flut ging zurück, und der Sand kam überall so schnell zum Vorschein, daß es aussah, als hätte er das Wasser in sich eingesogen.
    Sie wandten sich nach links und gingen am Ufersaum entlang, bis sie Genêts wieder gerade vor sich hatten. Das Dorf schien in fast greifbarer Nähe, und sie setzten sich in Trab, als gelte es, ihr Ziel in ein paar Minuten zu erreichen.
    „Halt!“ schrie Raymond. „Nicht so schnell! Überall kann hier Treibsand sein. Kommt her zu mir! Wir gehen im Gänsemarsch, erst ich, dann Pierre, Jacques, Jean, und Suzanne als letzte. Jeder setzt seinen Fuß genau in die Spur dessen, der vor ihm geht, und zwar halten alle zwei Meter Abstand voneinander. Sowie ich stehenbleibe, tut ihr das sofort auch. Aber ihr geht keinen Schritt zurück, ohne daß ich es sage.“
    So ermahnt, stellten sich die Meerkatzen in der befohlenen Reihenfolge hinter ihrem Oberhaupt auf. Alle kannten die Gefährlichkeit des Treibsandes, in dem schon so mancher den Tod gefunden hatte. Rings um den ,Mont‘ werden davon viele schreckliche Geschichten erzählt. Eine der verbreitetsten ist die von dem Motorradfahrer, der trotz aller Warnungen mit Hundertkilometer-Geschwindigkeit über den Sand hinbraust. Die freie Strecke ist wie für ihn gemacht: In zwei Minuten muß er am ,Mont‘ sein! Aber er kommt niemals dort an. Als er sich schon am Ziel glaubt, pluff! versinkt er unversehens mitsamt seiner Maschine in dem trügerischen Treibsand. Von weitem sehen die Muschelfischer, wie der Unglückliche verzweifelt einen Arm in die Luft wirft … Sie eilen mit allem, was sie zu seiner Rettung brauchen, zu Hilfe — auf Wegen, die sie allein kennen. Zu spät! Der Flugsand von Saint-Michel hat ein neues Opfer verschlungen.
    Was diese Geschichte ein wenig unglaubwürdig erscheinen läßt, ist, daß sie sich immer gerade vor ein paar Tagen ereignet hat. Kommt man gegen das Ende der Badesaison wieder, dann ist es erst vorige Woche gewesen, daß ein leichtsinniger Motorradfahrer … Und nächstes Jahr wird es wieder so sein, immer, immer wieder …
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