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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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dem Loch zu kommen.“
    „Glaubst du denn, daß er uns hört?“
    „Bestimmt. Er ist ein schlaues Tier, die einzige intelligente Molluske. Die Tintenfische in den Aquarien von Monaco kennen genau die Wärter, die ihnen jeden Tag das Futter geben.“
    „Und wie sollen wir es fertigbringen, den hier zu fangen?“
    „Erst müssen wir versuchen, ihn herauszulocken. Wenn das nicht glückt, müssen wir den Felsblock anheben. Bleibt mal hinter mir!“
    Raymond zog ein weißes Taschentuch aus der Tasche, riß ein Stück davon ab und legte es behutsam auf den Sand, etwa einen Meter vor der Höhlenöffnung. Dann streckte er sich hinter dem Felsblock längelang aus und blies mit seinen kräftigen Lungen auf das Stückchen Stoff, so daß es sich leicht bewegte. Der Erfolg blieb nicht aus. Ein rosaroter fleischiger Arm kam unter dem Stein hervor und reckte sich vorsichtig in die Länge. Suzanne unterdrückte einen Aufschrei des Ekels. Ein zweiter Arm tauchte auf, dann ein dritter, und zuletzt erschien der ganze Körper des Tieres, mit zwei Augen, die wie Menschenaugen aussahen.

    In dem Augenblick, wo der erste Arm den Taschentuchfetzen erreichte, sprang Raymond zu. Aber der kleine Jean, der neben ihm gelegen hatte, zuckte ängstlich zurück und stieß dabei an Raymonds ausgestreckte Hand. Statt den Tintenfisch zu packen, rutschte die Hand auf einem der Fangarme ab. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit floh das Tier in die Höhle zurück. Sein schleimiger Arm war zwischen den Fingern seines Verfolgers weggerutscht, ohne daß Raymond ihn hätte festhalten können.
    „Schade“, sagte er, „nun wird die Sache schwieriger. Wir brauchen uns nicht mehr zu verstecken. Der Tintenfisch weiß jetzt, daß er belagert wird.“
    „Warum ist er denn herausgekommen, als du das Stückchen Taschentuch hinlegtest?“
    „Alles, was weiß ist und sich bewegt, zieht ihn an. Er denkt, es könnte eine Beute sein. Aber zweimal läßt er sich mit einem Taschentuch nicht betrügen. Jetzt hat er sich in seinen Schlupfwinkel verzogen. Er kommt erst wieder zum Vorschein, wenn wir den Block anheben.“
    Suzanne, Pierre und Raymond faßten zu. Für alle fünf war kein Platz.
    „Hau — ruck!“
    Mit einem schnalzenden Laut hob sich der Stein aus dem feuchten Sand. Aber nur um wenige Zentimeter, dann fiel er zurück. Es gelang ihnen nicht, den Block mit einem einzigen Ruck hochzubekommen.
    „Jacques, Jean, holt uns Steine!“
    Die beiden Kleinen verstanden sofort, worum es sich handelte, und gehorchten schnell.
    „Hau — ruck!“
    Der Block schwankte, und Jean und Jacques hatten eben Zeit, zwei dicke Steine darunterzuschieben, bevor er sich wieder senkte. Der Eingang war nun freigelegt. Aber um den Tintenfisch aufzustöbern, hätte man einen Enterhaken gebraucht.
    Zu wiederholten Malen stützten sie den Stein immer höher ab. Der Tintenfisch war nunmehr gut zu sehen. Er hockte im Hintergrund der Höhle und duckte sich gegen die Rückwand.
    „Meinst du nicht, du könntest ihn zu fassen bekommen, wenn du den Arm ausstreckst?“ fragte Jacques.
    „Nein. Er würde sich nur mit sämtlichen Saugnäpfen seiner acht Arme an den Felsen ankleben, und ich bekäme ihn unmöglich los. Also: noch einmal! Diesmal können alle fünf mit anfassen, wir haben jetzt mehr Platz zum Anpacken. Seid ihr soweit? Hau — ruck!“
    Der Stein gab nach, ließ sich heben und fiel hintenüber. Sie konnten gerade noch ausweichen, um ihn nicht auf die Füße zu bekommen. Der Tintenfisch wartete nicht mehr. Nun er sich allen Schutzes beraubt sah, kam er aus seinem Loch hervor. Aber statt zu flüchten, entschloß er sich mutig zum Kampf. Er wählte seinen Gegner und kroch mit großer Geschwindigkeit auf Jacques zu. Der stieß einen Schrei des Entsetzens aus und rannte davon.
    „Wir haben ihn!“ rief Raymond. „Laßt euch von einem ganz gewöhnlichen Weichtier nicht ins Bockshorn jagen!“
    Um die Wahrheit zu sagen: Der Tintenfisch wirkte einigermaßen furchterregend. Zwar hatte er nicht den Umfang jenes Kraken, der sich einst Gilliatt zum Kampf stellte, aber er war doch eines der prächtigsten Exemplare, die an der Ärmelkanal-Küste zu finden sind. Wie er sich da auf dem Sande ausreckte, mochte er an die zwei Meter Spannweite haben, und sein runder Leib, aus dem die kugeligen Augen herausragten, war so groß wie ein Männerkopf.
    Raymond näherte sich und wollte das Tier zwischen den Augen packen. Aber der Tintenfisch kam ihm zuvor und schlug das Ende eines seiner Fangarme um
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