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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald
Autoren: Michel Rouzé
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zu sprechen versuchte, übermannte ihn das zwerchfellerschütternde Gelächter von neuem.
    Zwischen zwei Schluchzern stieß er endlich hervor:
    „Es sind unsere eigenen Spuren! Wir … wir laufen hinter uns selber her!“
    Tatsächlich: Da, wo sie eben angelangt waren, begann eine zweite Serie von Spuren. Sie vermischte sich, der ersten durchaus ähnlich, mit der, die sie verfolgten. Sie verglichen sie mit den eigenen Fußabdrücken. Es waren die gleichen. Das Muster ihrer Gummisohlen und Suzannes Tritte — sie ging am Strand am liebsten barfuß — waren genau zu unterscheiden.
    „Das Ganze ist furchtbar einfach“, sagte Raymond. „Wir laufen von Anfang an im Kreis herum. Wir sind auf einer Insel.“
    Wie zur Bestätigung seiner Worte trieb in diesem Augenblick ein leichter Wind die Nebelwand vor ihnen zum Strand nieder. Fassungslos erblickten die Meerkatzen in der Ferne ein verschwommenes, unwirkliches Bild, dessen Umrisse ihnen dennoch wohlvertraut waren: den Mont Saint-Michel! Unmittelbar darauf schloß der Vorhang sich wieder zu undurchdringlicher Dichte. Hätten sie nicht alle miteinander den ,Mont‘ erkannt, so hätte jeder geglaubt, er müsse sich getäuscht haben.

    Pierre ging plötzlich ein Licht auf.
    „Tombelaine!“ schrie er. „Auf Tombelaine sind wir herausgekommen!“
    So erklärte es sich auf die einfachste Weise der Welt, daß die Meerkatzen sich an einer felsigen Küste und dennoch in der Nachbarschaft des Mont Saint-Michel wiedergefunden hatten. An Tombelaine, das Inselchen, das drei Kilometer vom ,Mont‘ entfernt wie sein enterbter Zwillingsbruder aus der Sandebene aufragt, hatten sie nicht gedacht. Die beiden Felseninseln sind sich sehr ähnlich. Sie haben fast die gleiche Größe, gehören zu derselben Landschaft und stehen beide inmitten der Sandwüste, die einmal der Wald von Quokelunde war. Aber die Launen der Geschichte haben sie sehr verschieden behandelt. Der Mont Saint-Michel durfte erleben, daß auf seinem Granitsockel ein Wunderwerk der Architektur entstand, das über die ganze Welt hin Berühmtheit erlangte. Jahr um Jahr strömen die Reisenden zu der Abtei; es gibt wenige Orte, die einen solchen Besucherstrom zu verzeichnen haben.
    Auf Tombelaine dagegen wohnen nur Vögel und wilde Kaninchen. Dann und wann einmal legt zur Flutzeit ein Boot an, oder ein paar verrückte Touristen lassen sich bei Ebbe von einem Muschelfischer hinüberführen. Diese Männer allein kennen die Wege, auf denen man keine Gefahr läuft, in Treibsand zu geraten. Aber niemand bleibt lange. Bald wird ja die Flut wiederkehren. Und der alte Felsen versinkt wieder in Einsamkeit.
    Die Entdeckung beseelte die Meerkatzen mit frischem Mut. Endlich wußten sie, wo sie waren! Durch allzuviele unerklärliche Ereignisse waren sie schon ganz durcheinandergebracht. Wie Suzanne hatten auch die Jungen sich schon gefragt, ob sie nicht durch ein Wunder ahnungslos an die Küste eines fremden Landes verzaubert worden seien. Tombelaine — das war ein wohlbekannter Name und barg nichts Übernatürliches.
    Ihr erster Gedanke war, unverzüglich zur Küste hinüberzuwandern. Noch ging das Meer zurück; es bestand keine Gefahr, daß die Flut sie überraschte.
    „Nein“, sagte Raymond, „solange es so neblig ist, dürfen wir uns nicht in den Sand hinauswagen. Wir haben keinen Kompaß und könnten schnell die Richtung verlieren, schon weil wir Umwege machen müssen, sobald wir auf Treibsand stoßen. Bei dem Nebel kann es passieren, daß wir dem Meer in die Arme laufen, ohne daß wir es merken.“
    „Und wenn es so neblig bleibt?“
    „Einmal muß es ja auf hören.“
    „Aber so ein Wetter kann tagelang anhalten, gerade jetzt im September“, gab Suzanne zu bedenken. „Stell dir nur die Aufregung unserer Eltern vor, wenn wir nicht heimkommen!“
    „Immer noch besser, sie warten auf uns und sehen uns lebendig wieder, als daß sie uns ertrunken ans Ufer geschwemmt finden.“
    Vor vier Wochen hatten in Granville die Wellen einen leichtsinnigen Badegast, der sich zu weit hinausgewagt hatte, an den Strand getragen. Pierre war zufällig in der Nähe gewesen, als man den Toten brachte. Er dachte an die schaurige Szene und übertrug sie in der Phantasie: Fischer klopften bei seinen Eltern an die Tür. „Hier ist Ihr Sohn“, sagten sie zu seiner Mutter, „wir haben ihn am Strand gefunden …“ Nein, nein, man durfte es nicht darauf ankommen lassen!
    „Du hast recht, Raymond. Aber wenn wir hier bleiben, werden wir verhungern.
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