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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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ungeheure Heer der Pensionäre, die die Läden und Straßen der Küstenstadt füllten und mit ihrem langsamen Lebensrhythmus und ihrem zögernden Gang alles wie mit einem grauen Schleier überdeckten.
     Im Gegensatz dazu ließen Dr. Knights Selbstsicherheit und seine lässige Art, so brüsk und aggressiv er auch war, Conrads Puls schneller schlagen.
     Gegen Ende des Besuchs, als seine Tante mit Schwester Sadie ans Ende des Zimmers gegangen war, um die Springbrunnen zu betrachten, sagte Conrad zu seinem Onkel: »Dr. Knight sagt, er könne etwas für mein Bein tun.«
     »Ich bin sicher, daß er das kann, Conrad.« Onkel Theodore lächelte ermutigend, aber seine Augen beobachteten Conrad unbeweglich. »Diese Chirurgen sind tüchtige Leute; es ist erstaunlich, was sie fertigbringen.«
     »Und deine Hand, Onkel?« Conrad zeigte auf den Verband, in dem der linke Unterarm seines Onkels steckte. Der Anflug von Ironie in der Stimme seines Onkels erinnerte ihn an Dr. Knights unklare Ausdrucksweise. Er spürte, wie die Menschen um ihn herum sich auf die eine oder die andere Seite schlugen.
     »Diese Hand?« Sein Onkel zuckte die Achseln. »Sie hat mir fast sechzig Jahre lang gedient, ein fehlender Finger wird mich nicht daran hindern, meine Pfeife zu stopfen.« Bevor Conrad etwas sagen konnte, sprach er weiter: »Aber mit deinem Bein ist es eine andere Sache, du wirst dich selbst entscheiden müssen, was damit gemacht werden soll.«
     Kurz vor der Verabschiedung sagte er: »Ruh dich gut aus, mein Junge! Du wirst vielleicht rennen müssen, bevor du gehen kannst.«

    Zwei Tage danach, um Punkt neun Uhr, erschien Dr. Knight bei Conrad. Forsch wie immer, kam er sofort zum Kern der Sache.
     »Nun, Conrad«, begann er, während er den Bügel nach der Untersuchung wieder richtete, »es ist jetzt einen Monat her, seit Sie am Strand spazierengingen, höchste Zeit, daß Sie hier herauskommen und wieder auf die Beine gestellt werden. Was meinen Sie?«
     Conrad lächelte. »Beine?« wiederholte er. Er brachte ein leises Lachen zustande. »Sollte das bildlich gemeint sein?«
     »Nein, ich meinte es wörtlich.« Dr. Knight zog sich einen Stuhl heran. »Sagen Sie mir, Conrad, haben Sie schon einmal etwas von restaurativer Chirurgie gehört? Vielleicht ist in der Schule davon gesprochen worden.«
     »In Biologie – Nierenverpflanzungen und solche Sachen. Bei älteren Leuten macht man es. Ist es das, was Sie mit meinem Bein vorhaben?«
     »Hoho! Nicht so schnell! Wir wollen erst ein paar grundsätzliche Dinge klären. Wie gesagt, die restaurative Chirurgie datiert etwa fünfzig Jahre zurück. Damals wurden die ersten Versuche zur Verpflanzung von Nieren gemacht, obwohl schon Jahre zuvor Hornhautverpflanzungen nichts Besonderes mehr waren. Wenn man Blut als ein Gewebe ansieht, ist das Prinzip sogar noch älter – Sie hatten eine umfangreiche Blutübertragung nach dem Unfall und später noch eine, als Dr. Nathan das Knie und den Unterschenkel amputierte. Nichts Überraschendes dabei, oder?«
     Conrad wartete, bevor er antwortete. Zum erstenmal war Dr. Knights Ton defensiv, als ob er schon jetzt durch eine Art Extrapolation die Frage stellte, von der er fürchtete, daß Conrad sie negativ beantworten könnte.
     »Nein«, erwiderte Conrad. »Überhaupt nichts.«
     »Klar, warum auch? Man sollte zwar nicht vergessen, daß sich viele Leute geweigert haben, Bluttransfusionen anzunehmen, sogar wenn es ihren sicheren Tod bedeutete. Abgesehen von religiösen Bedenken, hatten viele einfach das Gefühl, das fremde Blut würde ihren eigenen Körper verunreinigen.« Dr. Knight lehnte sich zurück und blickte finster zur Decke hoch. »Man kann ihren Standpunkt verstehen, aber man muß sich vor Augen halten, daß unser Körper fast völlig aus Stoffen besteht, die einmal körperfremd waren. Wir hören schließlich nicht auf zu essen, nicht wahr, bloß um unsere absolute Identität zu bewahren?« Dr. Knight lachte dabei. »Das hieße den Egoismus auf die Spitze treiben, meinen Sie nicht auch?«
     Als Dr. Knight ihn ansah, als warte er auf eine Antwort, sagte Conrad: »Mehr oder weniger ja.«
     »Gut. Und in der Vergangenheit haben natürlich die meisten Leute diesen Standpunkt eingenommen. Die Implantation einer gesunden Niere an Stelle einer kranken bedeutet in keiner Weise einen Abstrich von der Integrität eines Menschen, besonders nicht, wenn dadurch sein Leben gerettet wird. Was zählt, ist die eigene kontinuierliche Identität, der
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