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060 - Jenseits der Dämmerung

060 - Jenseits der Dämmerung

Titel: 060 - Jenseits der Dämmerung
Autoren: Claudia Kern
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Ihr Name war Maadlin, aber jeder nannte sie einfach nur Maadi. In ihrem bislang achtundzwanzigjährigen Dasein hatte sie kaum Sorgen gekannt, keine Schmerzen erlitten – abgesehen von der Geburt der Zwillinge – und ein Leben geführt, das viele als paradiesisch bezeichnet hätten, das von ihr selbst aber als selbstverständlich hingenommen wurde.
    An diesem Morgen jedoch, als das Schiff endlich wieder an der Kaimauer anlegte, war all das vergessen. Selbst die beruhigenden und tröstenden Worte der anderen Passagiere nahm Maadi kaum wahr. In ihrem Geist war nur Platz für Benn und die Kinder.
    Sie sprang an Land, noch bevor ein Matrose eine Planke zur Mauer schieben konnte.
    Jemand rief ihr etwas hinterher, aber sie verstand die Worte nicht. Ihr Herz klopfte so laut, dass das Geräusch in ihrem Kopf nachhallte.
    Noch war die Stadt wie ausgestorben. Die Holzhäuser standen in ordentlichen Reihen nebeneinander, dunkel und verlassen. Maadi begegnete keinem einzigen Menschen, nur den Spuren der Zerstörung. Türen, die anscheinend aus dem Rahmen gesprengt worden waren, ausgefranste Löcher in den Wänden, Trümmerstücke im Schlamm der Straßen. Die Stege, die im Sommer den Weg über den aufgeweichten Boden erleichtern sollten, waren zerstört; einige Pfähle steckten wie Speere in zersprungenen Fensterscheiben.
    Maadi kämpfte sich durch den Schlamm. An manchen Stellen sank sie bis zu den Knien ein und musste sämtliche Kraft aufbringen, um sich zu befreien. Ihre Schuhe hatte sie längst verloren, die Kleidung hing schwer und nass am Körper. Maadi spürte nichts davon. Ihre Gedanken kreisten um das letzte Gespräch mit Benn.
    Geh du schon vor zum Schiff, hatte er gesagt. Ich hole Vincenn und Rodnee.
    Weißt du denn, wo sie sind?, war ihre Frage gewesen, und er hatte beruhigend gelächelt.
    Natürlich. Sie spielen doch immer am Bach.
    Er hatte Recht. Sobald der Bach eisfrei war, spielten die Zwillinge dort mit kleinen Booten und selbst gebauten Staudämmen. Der Weg war nicht weit, nur wenige Minuten, aber trotzdem hatte sie sich Sorgen gemacht, als sie allein zum Hafen ging.
    Und sie war allein geblieben. Trotz ihrer Proteste hatte das Schiff ohne Benn und die Kinder abgelegt, hatte sie gezwungen, eine unerträgliche Stunde lang auf dem Meer zu verharren, bevor die Sonne wie ein blutrotes Auge über den Bergen aufging und ihr den Weg zurück ermöglichte.
    Irgendetwas musste Benn daran gehindert haben, das Schiff zu erreichen. Vielleicht hatten die Kinder doch weiter entfernt gespielt oder er war auf andere Weise aufgehalten worden. In jedem Fall, das machte Maadi sich immer wieder klar, bedeutete es nicht unbedingt, dass sie tot waren. Viele Menschen hatten solche Nächte bereits überlebt, die meisten auf den Dächern ihrer Häuser oder in den Bergen. Wenn man sich versteckte und ruhig verhielt, hatte man gute Chancen, und schließlich gab es ja auch noch die Molunter.
    Sie hätten einem unbewaffneten Mann mit Kindern sicherlich geholfen.
    Als sie endlich ihr Haus erreichte, hatte sich Maadi fast davon überzeugt, dass alles in Ordnung sei. Die zertrümmerte Eingangstür und die aufgesprengten Balken waren kein Grund zur Besorgnis, ebenso wenig wie das zerschlagene Mobiliar und die tiefen Kratzspuren im Boden.
    Maadi folgte ihnen über die schlammbedeckte Treppe mit ihren fehlenden Stufen (sie war beinahe sicher, dass sie immer schon so ausgesehen hatte) in den ersten Stock. Durch ein Loch in der Wand konnte sie bis zum Hafen sehen. Bei der nächsten Gelegenheit würde sie Benn daran erinnern, einen Schreiner kommen zu lassen.
    Die Tür zum Kinderzimmer hing schräg in den Angeln. Dahinter sah Maadi zwei umgeworfene Betten. Die Laken waren zerrissen, Biisonwolle quoll hervor. Es sah fast so aus, als habe jemand dort nach einem Versteck gesucht.
    Maadi zog vorsichtig die Tür zu. Sie wusste, dass sie die restlichen Zimmer nicht durchsuchen musste, denn Benn und die Kinder hatten sich an einem anderen Ort außerhalb des Hauses in Sicherheit gebracht. Es ging ihnen gut, daran gab es keinen Zweifel.
    Die Trümmer waren unwichtig. Die Kratzer waren unwichtig. Und das Blut, das den Boden in großen Pfützen bedeckte und von den Wänden tropfte, hatte ebenfalls keinerlei Bedeutung.
    Nicht die geringste.
    ***
    WAS BISHER GESCHAH
    Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weit e Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch
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