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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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Augenblick…
     »Judith!« Maitland beugte sich in seinem Rollstuhl vor und tastete hilflos nach der Wasserkaraffe auf dem Tisch, während er mit der linken Hand gegen seine Stirn trommelte, um die Vision zu verscheuchen.
     »Richard! Was hast du?«
     Er hörte die eiligen Schritte seiner Frau auf dem Rasen und spürte dann, wie sie ihre Hände auf die seinen legte, um ihn zu beruhigen.
     »Liebster, was um Himmels willen ist dir geschehen? Du bist ja schweißnaß!«
     Am Nachmittag, als er wieder allein war, näherte sich Maitland dem Labyrinth vorsichtiger. Bei Ebbe kehrten die Möwen zu den Schlickbänken unterhalb des Gartens zurück, und ihre Schreie führten seinen Geist wieder in die Tiefen wie Totenvögel, die Tristans Leiche davontragen. Vorsichtig ging er langsam durch die leuchtenden Kammern des unterirdischen Hauses und vermied es, die grüngewandete Zauberin, die ihn von der Treppe aus beobachtete, anzusehen.
     Später, als Judith ihm auf einem Tablett den Tee brachte, aß er vorsichtig und sprach zurückhaltend mit ihr.
     »Was hast du in deinem Alptraum gesehen?« fragte sie ihn.
     »Ein Haus aus Spiegeln unter dem Meer und eine tiefe Höhle«, erzählte er ihr. »Ich sah alles, aber es war merkwürdig, so wie die Träume von Leuten, die schon lange blind sind.«
     Den ganzen Nachmittag und Abend kehrte er in Abständen zu der Grotte zurück und bewegte sich behutsam durch die äußeren Kammern, immer im Bewußtsein, daß die Frau an der Tür zu dem inneren Allerheiligsten auf ihn wartete.
    Am nächsten Morgen kam Dr. Phillips, um den Verband zu wechseln.
     »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, sagte er, als er, in einer Hand die kleine Stablampe, Maitlands Augenlider wieder mit Klebeband zuklebte. »Noch eine Woche, und Sie haben diese Geschichte endgültig überstanden. Jetzt wissen Sie wenigstens, wie Blinden zumute ist.«
     »Sie sind zu beneiden«, sagte Maitland.
     »Wirklich?«
     »Sie sehen mit einem inneren Auge. In gewisser Weise ist dort alles viel wirklicher.«
     »Das ist ein Standpunkt.« Dr. Phillips legte den Verband wieder an. Er zog die Vorhänge zurück. »Was haben Sie gesehen?«
     Maitland gab keine Antwort. Dr. Phillips hatte ihn in dem verdunkelten Arbeitszimmer untersucht, aber der dünne Lichtstrahl und die wenigen Lichtnadeln, die an den Vorhängen vorbeigekommen waren, hatten sein Gehirn ausgefüllt wie Bogenlampen. Während er auf das Verblassen dieses grellen Scheins wartete, war er sich bewußt, daß seine innere Welt, die Grotte, das Haus aus Spiegeln und die Zauberin, durch das Sonnenlicht aus seinem Geist ausgebrannt worden waren.
     »Das sind hypnagogische Bilder«, bemerkte Dr. Phillips, während er seine Tasche zumachte. »Sie haben in einer ungewöhnlichen Zone gelebt, haben dagesessen und nichts getan, während Ihre Sehnerven wach waren. Sie waren in einem Niemandsland zwischen Schlaf und Bewußtsein. Da können die merkwürdigsten Dinge vorkommen.«
     Nachdem er gegangen war, flüsterte Maitland unter seinem Verband: »Doktor, geben Sie mir meine Augen wieder!« Er brauchte volle zwei Tage, um sich von diesem kurzen Einfall von Außenlicht zu erholen. Mühsam, Stein für Stein, erkundete er wieder die verborgene Küste, brachte sich mit Willenskraft durch die verhüllenden Seenebel und suchte nach der verlorenen Flußmündung.
     Endlich tauchte der leuchtende Strand wieder auf.
     »Ich glaube, ich schlafe heute lieber allein«, sagte er zu Judith. »Ich werde in Mutters Zimmer gehen.«
     »Aber gewiß, Richard. Was ist denn?«
     »Ich glaube, ich bin unruhig. Ich habe nicht viel Bewegung, und es sind nur noch drei Tage. Ich will dich nicht stören.«
     Er fand den Weg ins Schlafzimmer seiner Mutter, das er in den Jahren seit seiner Verheiratung nur gelegentlich kurz betreten hatte. Das hohe Bett, das tiefe Rascheln von Seide und die Echos von vergessenen Gerüchen versetzten ihn in seine frühe Kindheit zurück. Er lag die ganze Nacht wach und lauschte den Geräuschen des Flusses, die von den geschliffenen Glasornamenten über dem Kamin widerhallten.
     In der Morgendämmerung, als die Möwen von der Mündung heraufkamen, besuchte er wieder die blaue Grotte und das Haus am Kliff. Da er die Einwohnerin nun kannte, die grüngewandete Beobachterin auf der Treppe, entschloß er sich, das Morgenlicht abzuwarten. Ihre winkenden Augen, die blasse Laterne ihres Lächelns, schwebten vor ihm.

    Nach dem Frühstück erschien jedoch Dr. Phillips
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