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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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weg. Wie ein blinder Wurm drehte er seinen abgestumpften Kopf den unvertrauten Geräuschen und Formen im Garten zu.
     »Fehlt dir nichts?« Judiths Schritte kamen über den Rasen. »Was ist los, du bist ja so zusammengesackt – haben die Vögel dich belästigt?«
     »Nein, laß sie nur!« Maitland ließ seinen Stock sinken. Er erkannte, daß die Möwen, obzwar sie in seiner Vision nicht sichtbar zugegen waren, bei ihrer Schöpfung indirekt eine Rolle gespielt hatten. Die schaumweißen Seevögel, Jäger des Albatros…
     Mit einiger Mühe sagte er: »Ich habe geschlafen.«
     Judith kniete nieder und nahm seine Hände. »Du tust mir leid, ich werde einen der Männer bitten, eine Vogelscheuche aufzustellen. Das sollte…«
     »Nein.« Maitland zog seine Hände weg. »Sie stören mich überhaupt nicht.« In gleichgültigem Tonfall fragte er: »Hast du in der Stadt jemanden getroffen?«
     »Dr. Phillips. Er sagte, du würdest in etwa zehn Tagen den Verband abnehmen können.«
     »Gut. Es eilt aber nicht. Ich möchte nicht, daß etwas schiefgeht bei der Sache.«
     Nachdem Judith zum Haus zurückgegangen war, versuchte Maitland, seinen Traum zurückzuholen, aber das Bild blieb hinter der Wand seines Bewußtseins verborgen.
     Beim Frühstück am nächsten Morgen las ihm Judith die Post vor.
     »Da ist eine Postkarte von deiner Mutter. Sie sind in der Nähe von Malta, Gozo heißt der Ort.«
     »Gib sie mir!« Maitland fühlte die Karte in seinen Händen. »Gozo – das ist die Insel der Kalypso. Sie hielt Odysseus sieben Jahre dort fest und versprach ihm ewige Jugend, wenn er für immer bei ihr bliebe.«
     »Das überrascht mich nicht.« Judith kippte die Postkarte zu sich hin. »Wenn wir Zeit finden, sollten wir beide einmal dorthin in Urlaub fahren. Weindunkle See, ein strahlender Himmel und blaue Felsen. Herrlich!«
     »Blau?«
     »Ja. Es ist wohl der schlechte Druck. Sie können nicht wirklich so aussehen.«
     »Doch, das tun sie tatsächlich.« Mit der Karte in der Hand ging Maitland in den Garten hinaus, wobei er sich an dem gespannten Seil entlangtastete. Als er sich in den Rollstuhl setzte, überlegt er, daß es noch andere Übereinstimmungen in der bildenden Kunst gab. Die gleichen blauen Felsen und geisterhaften Grotten waren in Leonardos Madonna in der Felsengrotte zu sehen, einem der unzugänglichsten und rätselhaftesten von seinen Bildern. Die Madonna, die auf einem nackten Felsvorsprung am Wasser sitzt, unter dem dunklen, überhängenden Eingang zur Höhle, sieht aus wie ein Geist aus einem verzauberten Meeresreich, der auf diejenigen wartet, die an die Felsgestade am Ende dieser Welt geworfen werden. Wie in so vielen Gemälden Leonardos waren alle seine eigentümlichen Sehnsüchte und Ängste in der Landschaft des Hintergrundes zu finden. Hier sah man durch einen Bogengang in den Felsen die kristallblauen Klippen, die Maitland in seinem Traum erblickt hatte.
     »Soll ich sie dir vorlesen?« Judith war zu ihm gekommen.
     »Was?«
     »Die Karte von deiner Mutter. Du hast sie in der Hand.«
     »Ach, verzeih! Ja, bitte.«
     Während er sich die kurze Nachricht anhörte, wartete Maitland auf Judiths Rückkehr ins Haus. Als sie gegangen war, saß er einige Minuten still da. Die fernen Geräusche des Flusses drangen durch die Bäume an sein Ohr.
     Als ob sie Maitlands Bedürfnis erkannt hätte, kam die Vision diesmal schnell. Er passierte die dunklen Klippen und die Wellen, die in die Felsenschlunde sprangen, und betrat dann die Dämmerwelt der Grotten am Fluß. Draußen sah er durch die Steingalerien die Wasseroberfläche glitzern wie eine Lage Prismen, und das weiche, blaue Licht spiegelte sich in den glasigen Wänden der Kaverne. Zur gleichen Zeit hatte er das Gefühl, das Haus mit den hohen Giebeln zu betreten, dessen Einfassungsmauer das Kliff war, das er vom Meer aus gesehen hatte. Die felsigen Gewölbe des Hauses erglühten in den olivschwarzen Farben der Tiefsee, und von Türen und Fenstern hingen Gardinen aus alter Spitze wie uralte Netze.
     Eine Treppe führte in vertrauten Kehren durch die Grotte in die inneren Bereiche der Kaverne. Als er hochschaute, sah er die grüngekleidete Gestalt, die ihn aus einem Torbogen beobachtete. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, es war von dem Licht, das die feuchten Spiegel an der Wand reflektierten, verschleiert. Es trieb Maitland die Treppe hinauf, und als er ihr seine Hände entgegenstreckte, klärte sich das Gesicht der Frau für einen
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