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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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Der unmögliche Mensch

    Bei Ebbe, als sie ihre Eier endlich in dem aufgewühlten Sand unter den Dünen vergraben hatten, begaben sich die Schildkröten auf die Rückwanderung ins Meer. Conrad Foster, der mit seinem Onkel vom Geländer an der Sandstraße aus zusah, schien es, als hätten sie nicht viel mehr als fünfzig Meter weit bis in die Sicherheit des Wassers. Die Schildkröten krochen weiter, ihre dunklen Buckel zwischen Apfelsinenkisten und angetriebenem Seetang versteckt. Conrad zeigte auf den Möwenschwarm, der in der Form eines riesigen Schwertes auf der überfluteten Sandbank in der Flußmündung saß. Die Vögel hatten auf das Meer hinausgestarrt, als interessierte die verlassene Küste sie nicht, wo der alte Mann und der Junge am Geländer warteten, aber bei dieser kleinen Armbewegung Conrads drehten sich ein Dutzend weiße Köpfe gleichzeitig.
     »Sie haben sie gesehen…« Conrad ließ seinen Arm auf das Geländer fallen. »Onkel Theodore, glaubst du…?«
     Sein Onkel zuckte die Achseln und zeigte dann mit seinem Stock auf ein Auto, das ein paar hundert Meter von ihnen entfernt auf der Straße fuhr. »Es könnte das Auto gewesen sein.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund, als ein Schrei von der Sandbank kam. Die erste Möwengruppe stieg auf und kurvte auf die Küste zu. »Sie kommen.«
     Die Schildkröten waren aus der Deckung des Treibgutes an der Flutkante herausgekommen. Sie krochen über die nasse Sandfläche, die zum Wasser hin abfiel, während die Schreie der Möwen über ihren Köpfen die Luft zerrissen.
     Unwillkürlich wich Conrad zurück, in Richtung auf die Reihe von Chalets und den verlassenen Teegarten am Stadtrand. Sein Onkel hielt ihn am Arm fest. Die Schildkröten wurden aus dem seichten Wasser gehoben und auf den Sand geworfen und dann von Dutzenden von Schnäbeln zerfleischt.
     Kaum eine Minute nach ihrer Ankunft begannen die Vögel vom Strand aufzufliegen. Conrad und sein Onkel waren nicht die einzigen Zuschauer bei dem kurzen Festmahl der Möwen gewesen. Ein kleiner Trupp, ein paar Dutzend Männer, kam von dem Beobachtungspunkt in den Dünen herunter, ging über den Sand und verscheuchte die letzten der Möwen. Die Männer waren alle schon ziemlich alt und trugen Unterhemden und bis zu den Knien aufgerollte Flanellhosen. Jeder hatte einen Leinenbeutel und eine hölzerne Gaffel mit einem Stahlblatt an der Spitze. Sie sammelten die Panzer auf, reinigten sie mit schnellen, geübten Bewegungen und warfen sie in den Beutel. Der nasse Sand triefte von Blut, und bald waren auch die bloßen Füße und die Arme der alten Männer mit roten Flecken bedeckt.
     »Ich glaube, du möchtest jetzt gehen.« Onkel Theodore sah zum Himmel hinauf und verfolgte die Möwen auf ihrem Rückflug zur Mündung. »Deine Tante hat sicher schon etwas für uns bereitstehen.«
     Conrad beobachtete die alten Männer. Als sie vorbeikamen, hob einer von ihnen die blutige Gaffel zum Gruß. »Wer sind sie?« fragte Conrad, als sein Onkel den Gruß erwiderte.
     »Schalensammler – sie kommen in der Saison hierher. Diese Schalen werden gut bezahlt. – Wir müssen jetzt gehen.«
     Sie machten sich auf den Rückweg zur Stadt. Onkel Theodore ging langsam mit seinem Stock. Während er wartete, blickte Conrad zurück über den Strand. Aus irgendeinem Grunde störte ihn der Anblick der alten, vom Blut der zerfleischten Schildkröten beschmierten Männer mehr als die Bösartigkeit der Möwen.
     Der Lärm eines Lastwagens übertönte das entschwindende Gekreisch der Möwen, die sich auf der Sandbank niederließen. Die alten Männer waren gegangen, und die hereinkommende Flut begann den befleckten Sand reinzuwaschen. Sie erreichten den Obergang bei dem ersten der Chalets. Conrad steuerte seinen Onkel zu den Verkehrsinseln in der Mitte der Straße. Als sie warteten, um den Lastwagen vorbeizulassen, sagte er: »Onkel, hast du gesehen, daß die Vögel nie den Sand berührten? Solange sich etwas bewegte…«
     Der Lastwagen donnerte vorbei. Conrad nahm den Arm seines Onkels und schritt aus. Der alte Mann lief schwerfällig, seinen Stock in den sandigen Straßenbelag eingrabend. Dann fuhr er erschrocken zurück, und seine Pfeife fiel ihm aus dem Mund, als ein Sportwagen aus der Staubwolke hinter dem Laster auf sie zuschleuderte. Conrad sah die weißen Knöchel des Fahrers am Lenkrad, ein starres Gesicht hinter der Windschutzscheibe, als der Wagen mit blockierenden Bremsen seitlich über die Straße rutschte. Conrad schob den
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