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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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wieder.
     »Also«, sagte er kurz zu Maitland, als er ihn vom Rasen hineinführte, »nun nehmen wir diese Binde ab.«
     »Zum letztenmal, Doktor?« fragte Judith. »Sind Sie sicher?«
     »Gewiß. Es soll schließlich nicht ewig so weitergehen, nicht?« Er steuerte Maitland ins Arbeitszimmer. »Setzen Sie sich hierher, Richard! Ziehen Sie bitte die Vorhänge zu, Judith!«
     Maitland stand auf und tastete nach dem Schreibtisch. »Aber Sie sagten doch, es würde noch drei Tage dauern, Doktor.«
     »Das habe ich wohl. Aber ich wollte nicht, daß Sie sich überreizen. Was ist los? Wollen Sie nicht wieder sehen?«
      »Sehen?« wiederholte Maitland benommen. »Natürlich.« Er ließ sich schlaff in einen Sessel sinken, als Dr. Phillips die Binde löste. Ein tiefes Gefühl des Verlorenseins war über ihn gekommen. »Doktor, kann ich es noch aufschieben, bis…«
     »Unsinn! Sie können einwandfrei sehen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich reiße nicht gleich die Vorhänge auf. Es wird einen ganzen Tag dauern, bis Sie frei sehen können. Ich gebe Ihnen dunkle Gläser, die Sie tragen können. Übrigens lassen auch diese Binden mehr Licht durch, als Sie sich vorstellen.«

    Um elf Uhr am nächsten Vormittag ging Maitland auf den Rasen hinaus, seine Augen waren nur durch eine Sonnenbrille geschützt. Judith stand auf der Terrasse und beobachtete, wie er um seinen Rollstuhl herumging. Als er an den Weiden ankam, rief sie: »Gut, Liebster. Kannst du mich sehen?«
     Ohne zu antworten schaute Maitland zum Haus zurück. Er nahm die Sonnenbrille ab und warf sie ins Gras. Er starrte durch die Bäume nach der Flußmündung, auf die blaue Wasserfläche. Hunderte von Möwen standen am Wasser, ihre Köpfe im Profil, so daß die Kurve ihres Schnabels zu sehen war. Er blickte über seine Schulter nach dem Haus mit den hohen Giebeln und erkannte das Haus, das er in seinem Traum gesehen hatte. Alles um ihn herum, wie der Fluß, der an ihm vorbeizog, erschien ihm tot.
     Plötzlich flogen die Möwen auf und übertönten mit ihrem Geschrei Judiths Stimme, die wieder von der Terrasse rief. In einer dichten Spirale, die sich vom Boden erhob wie eine riesige Sense, kurvten die Möwen über seinem Kopf und flogen über das Haus.
     Schnell schob Maitland die Weidenzweige beiseite und ging zum Ufer hinunter.
     Einen Augenblick später hörte Judith seinen Schrei aus dem Möwengekreisch heraus. Er klang halb nach Schmerz und halb nach Triumph. Sie rannte zu den Bäumen hinunter, weil sie nicht wußte, ob er sich verletzt hatte oder ob er etwas Schönes entdeckt hatte.
     Dann sah sie ihn am Ufer stehen, seinen Kopf dem Sonnenlicht zugewandt, das helle Rot auf Wangen und Händen; ein freudiger, reueloser Ödipus.
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