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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
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Prolog
    Wendland, Mai 1986
    Es hieß, sie sei verschwunden.
    Ungläubig hatte der Junge den Gerüchten gelauscht: Sie sei am Vorabend aus der Stadt zurückgekehrt und an der Bushaltestelle im Dorf ausgestiegen. Doch ihr Vater, der sie dort abholen sollte, habe sie nicht angetroffen und nach stundenlanger Suche die Polizei alarmiert. Man werde die Wälder im Umkreis des Dorfes mit Spürhunden durchkämmen, sagten die Erwachsenen.
    Es hieß, sie sei verschwunden.
    Der Junge wollte es nicht glauben. Vielleicht kam sie einfach nur später zurück, als sie am Telefon angekündigt hatte. Oder sie hatte beschlossen, dass sie ihre Eltern gar nicht sehen, sondern allein sein wollte. Was wussten schon ihre Eltern? Sie wussten
nichts
von ihr, nicht, was sie tat, was sie sich wünschte oder wohin sie ging, wenn sie den bösen Blicken der Leute im Dorf entfliehen wollte.
    Der Junge aber wusste es. Er suchte den Ort auf, wo er ihr schon mehrmals begegnet war: ein verfallenes Haus mitten im Wald, unweit der Landstraße. Das Haus war seit Jahren unbewohnt. Niemand sonst kam hierher, außer ihm – und ihr – und den Tieren des Waldes. Der Gartenzaun war längst in einzelne Latten zerfallen, die im Gras moderten. Die nackten Wände, von Wind und Wetter bis auf Hüfthöhe abgetragen, waren mit Moos undKletterpflanzen überrankt. Das Sparrendach war schon vor Jahren eingebrochen, sodass kaum mehr als ein Mauerviereck zurückgeblieben war, das sich zum Himmel öffnete.
    »Christine?«, rief der Junge. »Bist du hier?«
    Er umrundete die kleine Lichtung, einmal, zweimal. Dann betrat er den brüchigen Betonboden des Hauses, ging von einem Raum zum anderen.
    »Christine?«
    Doch die einzige Stimme, die antwortete, kam aus seinem Innern.
    Sie ist tot
, sagte die Stimme.
    Der Junge schauderte.
Nein,
dachte er.
Nein.
Das konnte nicht sein. Er war sicher, dass sie hier war, irgendwo in der Nähe des Hauses, das sie stets aufsuchte, wenn sie der bedrückenden Enge des Dorfes entfliehen wollte. Oft hatte er sie hier gesehen, wie sie allein im Gras saß und sich an eine der verfallenen Wände lehnte, den Blick ihrer dunkel ummalten Augen zum Himmel gerichtet, das weiß geschminkte Gesicht von schwarzem Haar umgeben. Zuweilen hatte er sich herangeschlichen und sie beobachtet, hinter einen Busch geduckt oder im Schatten eines Baums, manchmal stundenlang. Einmal hatte er sein Versteck verlassen und so getan, als käme er zufällig des Wegs – und ganz unerwartet hatte sie ihn aufgefordert, sich zu ihr zu setzen. Der Junge hatte sein Glück kaum fassen können. Er hatte sich neben sie gesetzt, doch vor lauter Aufregung kein Wort hervorgebracht.
    »Du bist ein komischer Kauz«
, hatte sie gesagt, doch zugleich hatte sie gelächelt.
»Ich mag komische Käuze.«
    Dem Jungen war bei diesen Worten ganz heiß geworden. Auch er mochte sie – wenngleich er wusste, dass das verboten war, für ihn mehr als für jeden anderen im Dorf. Sein Vater hatte es ihm gesagt: Er
durfte
sie nicht mögen,sie nicht beachten, erst recht nicht mit ihr sprechen. Es war unnatürlich, böse, verrückt – es war ein Beweis seiner Schwäche, seines kranken Geistes.
    Sie ist tot
, wiederholte die Stimme.
    Doch der Junge wollte es nicht glauben. Sie war der einzige Mensch gewesen, in dessen Gegenwart er sich
nicht
böse, verdorben oder verrückt vorgekommen war – wie konnte sie ihn verlassen?
    »Christine!«, rief er abermals.
    Niemand antwortete. Nur die Krähen in den Baumwipfeln krächzten, als verspotteten sie ihn, während der Wald ringsum so still und tot dalag wie ein Friedhof.
    Sie ist trotzdem hier,
dachte der Junge verzweifelt.
Sie muss hier sein.
    Er verließ das verfallene Haus und trat in den ehemaligen Garten hinaus, der von Farnen und Buschwerk überwachsen war. Vielleicht versteckte sie sich irgendwo, weil sie allein sein wollte. Das tat sie gelegentlich, wie der Junge wusste. Sie verbrachte viel Zeit allein, denn sie legte wenig Wert auf die Gesellschaft der Menschen im Dorf, die mit dem Finger auf sie zeigten. Sie hatte keine Freunde, nicht einmal in der Schule, und selbst ihren Eltern lief sie immer wieder davon, um sich in der großen Stadt herumzutreiben, von der sie dem Jungen erzählt hatte. Christine verachtete die Menschen im Dorf ebenso, wie diese sie verachteten.
    »Gottverdammte Spießer«,
hatte sie gesagt.
»Die verstehen überhaupt nichts. Am besten, man ignoriert sie.«
    Ihn jedoch, den Jungen, hatte Christine nicht ignoriert. Er wusste, dass
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