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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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was schiefgeht.«
     Er zog sich einen Metallstuhl heran und setzte sich im Reitsitz darauf, wobei er mit einem Schwung die Schöße seines weißen Mantels zur Seite warf. »Nichts daß etwas schiefgehen wird. Also?«
     Conrad hörte, wie Dr. Nathans Füße auf dem gebohnerten Fußboden trommelten. Er räusperte sich. »Wo sind die andern?«
     »Sie haben es bemerkt?« Dr. Knight warf seinem Kollegen einen Blick zu. »Na, es war wohl auch nicht zu übersehen.« Er starrte durch das Fenster auf die leeren Anlagen. »Es stimmt, es ist kaum jemand hier.«
     »Ein Kompliment für uns, Conrad, oder nicht?« Dr. Nathan näherte sich dem Bett wieder. Das Lächeln um seine Lippen schien zu einem anderen Gesicht zu gehören.
     »Tschaa…«, sagte Dr. Knight langgezogen. »Das hat Ihnen natürlich wohl noch niemand erklärt, Conrad, aber dies ist eigentlich kein Krankenhaus der üblichen Art.«
     »Was…?« Conrad wollte sich aufrichten und zerrte an dem Bügel über seinem Bein. »Was meinen Sie damit?«
     Dr. Knight hob die Hände. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Conrad. Natürlich ist dies ein Krankenhaus, in der Tat eine sehr fortschrittliche chirurgische Anstalt, aber es ist etwas mehr als ein Krankenhaus, wie ich Ihnen gleich erklären werde.«
     Conrad beobachtete Dr. Nathan. Der ältere Arzt starrte zum Fenster hinaus, scheinbar auf die Springbrunnen, aber das Lächeln fehlte jetzt auf seinem Gesicht.
     »In welcher Weise? Hat es etwas mit mir zu tun?«
     Dr. Knight breitete in einer unklaren Geste seine Hände aus. »In gewissem Sinne ja. Aber wir werden darüber morgen sprechen. Für den Augenblick haben wir Sie genug beansprucht.«
     Er stand auf, seine Blicke immer noch forschend auf Conrad gerichtet, und legte seine Hand auf den Bügel. »Das Bein wird uns eine Menge Arbeit machen, Conrad. Aber am Ende, wenn wir fertig sind, werden Sie angenehm überrascht davon sein, was wir hier fertigbringen können. Als Gegenleistung können Sie dann vielleicht uns helfen – so hoffen wir, nicht wahr, Dr. Nathan?«
     Dr. Nathans Lächeln lag wieder um seine Lippen wie ein zurückgekehrter Geist. »Ich glaube bestimmt, das wird Conrad nur zu gern.«
     Als sie an der Tür waren, rief Conrad sie zurück.
     »Was ist, Conrad?« Dr. Knight wartete beim nächsten Bett. »Der Fahrer – der Mann in dem Sportwagen. Was ist ihm passiert? Ist er hier?«
     »Er ist tatsächlich hier, aber…« Dr. Knight zögerte und schien dann den Kurs zu ändern. »Um ganz ehrlich zu sein, Conrad, Sie werden ihn nicht sehen. Ich weiß, der Unfall war fast mit Sicherheit seine Schuld…«
     »Nein!« Conrad schüttelte den Kopf. »Ich will ihm nicht die Schuld geben… wir kamen hinter dem Lastwagen hervor. Ist er hier?«
     »Der Wagen schlug gegen den Stahlmast auf der Verkehrsinsel und durchbrach dann die Ufermauer. Der Fahrer starb am Strand. Er war nicht viel älter als Sie, Conrad. Er hat möglicherweise sogar versucht, Sie und Ihren Onkel zu schonen.«
     Conrad nickte. Er erinnerte sich an das weiße Gesicht hinter der Windschutzscheibe.
     Dr. Knight wandte sich zur Tür. Beinahe sotto voce fügte er hinzu: »Und Sie werden sehen, Conrad, er kann Ihnen immer noch helfen.«
     Um drei Uhr nachmittags erschien Conrads Onkel. In einem Rollstuhl sitzend und von seiner Frau und Schwester Sadie geschoben, winkte er Conrad mit seiner freien Hand fröhlich zu, als er ins Krankenzimmer kam. Aber zum erstenmal konnte der Anblick von Onkel Theodore Conrads Stimmung nicht heben. Er hatte sich auf seinen Besuch gefreut, aber sein Onkel war seit dem Unfall um zehn Jahre gealtert, und der Anblick dieser drei mit lächelnden Gesichtern auf ihn zukommenden alten Menschen, von denen der eine ein partieller Krüppel war, erinnerte ihn an seine Isolierung in dem Krankenhaus.
     Als er seinem Onkel zuhörte, erkannte Conrad, daß diese Isolierung nur eine extreme Form seiner eigenen Lage war – und der aller jungen Menschen außerhalb der Krankenhausmauern. Als Kind hatte Conrad wenige gleichaltrige Freunde gehabt, aus dem einfachen Grunde, weil Kinder fast so selten waren wie Hundertjährige vor hundert Jahren. Er war in eine Welt von Leuten in mittlerem Alter hineingeboren, noch dazu eine, in der das mittlere Alter selbst sich ständig verschob, wie der Horizont eines zurückweichenden Universums sich immer weiter vom Ausgangspunkt entfernt. Seine Tante und sein Onkel, beide fast sechzig, repräsentierten die Mittellinie. Dahinter kam das
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