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Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)

Titel: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
Autoren: Navid Kermani
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2. Das Buch der Leiden
    Die Rahmenhandlung
    In Anlehnung an das Ritual der vierzigtägigen Klausur (celeh), das die islamische Mystik bis heute kennt, erzählt «Das Buch der Leiden» eine Reise in vierzig Etappen durch den Kosmos. Jedes Kapitel steht poetisch für einen Zustand innerhalb der Versenkung, den die theoretischen Traktate der Sufis ausführlich erörtern, widmet sich spezifischen Stimmungen, Wahrnehmungen, Bildern und Ansichten, die dem Meditierenden im Laufe seiner inneren Reise zuteil werden. Vierzig ist im Sufismus die Zahl der Ausdauer, der Geduld, der Ergebung im Leiden, bis die Erfüllung naht; man mag auch an die vierzigjährige Wanderung der Kinder Israels durch die Wüste denken, die vierzig Tage Moses auf dem Berg Sinai oder die vierzigtägige Fastenzeit im Christentum. Die Klausur findet meist in einem winzigen Raum statt, in dem sich der Sufi, angeleitet von seinem Pir, vierzig Tage nur mit Meditationen, der Lektüre des Korans und der vieltausendfachen Wiederholung einer Gebetsformel beschäftigt. Oft verringert der Lehrer im Laufe der celeh die Nahrung des Novizen oder verordnet ihm eine unbequeme Stellung, etwa daß er sich für Stunden und Tage auf die Zehenspitzen stellen oder den Kopf auf die Knie legen soll. Die mannigfaltigen Erleuchtungen, Gesichte und Einsichten, die dem Meditierenden im Laufe der vierzig Tage im besten Fall zuteil werden, erzählt er in regelmäßigen Abständen dem Pir, der sie ihm deutet und neue Anweisungen erteilt.
    Im «Buch der Leiden» ist das Bewußtsein, das in ungeahnte, oft bedrohliche, vereinzelt beglückende Sphären vordringt, durch den sogenannten «Wanderer des Denkens» (sālek-e fekrat) personifiziert, der zu einem solchen Pir im Jüngerverhältnis steht. Möglicherweise hat Attar die Überlieferung von der Seelenreise des berühmten Mystikers Bayezid Bestami (gest. 874), die er in seinen «Heiligenviten» selbst nacherzählt, zu seiner Rahmenhandlung inspiriert. Danach ist Bayezid in den Klausuren, die er teils auf Zehenspitzen stehend, teils mit dem Kopf auf den Knien verbrachte, mit seinen Gedanken und Vorstellungen, ähnlich wie der Prophet auf seiner Himmelfahrt nach Jerusalem, durch das Weltall gereist.[ 1 ]
    Dem Brauch nach beginnt das Buch mit dem ausführlichen Lob des Schöpfers, das insbesondere dessen Allmacht und Größe hervorhebt, aber in einzelnen, überraschenden Wendungen bereits die Willkür benennt, welcher Engel und Menschen ausgesetzt sind.
Hunderttausend Jahre des Gehorsams
          Lohnt Er mit dem Zaumzeug Seines Fluches. (0, 3)
    Nach einem langen Abschnitt über die herausragenden Eigenschaften des Propheten geht Attar zunächst auf die Vorzüge der ersten vier Kalifen ein, dann der beiden schiitischen Imame Hassan (ermordet um 669) und Hossein (gefallen 680). Daß er sich stets ausgleichend gegenüber schiitischen Befindlichkeiten äußert, obwohl er auf festem sunnitischen Boden steht, findet im darauffolgenden Kapitel indirekt eine Begründung: Es ist nämlich vollständig den Gefahren des taassob gewidmet, des religiösen Dogmatismus oder Fanatismus, auf den er auch später immer wieder zornig zurückkommen wird. Die Präliminarien werden vervollständigt durch eine detailversessene Erörterung der mystischen Zustände, das vehemente Eintreten für Recht und Bedeutung der Dichtung und schließlich eine kurze, Pascals (gest. 1662) «Gedanken» vorgreifende Polemik gegen die Philosophie und ihren anmaßenden Versuch, die Religion rein rational zu begreifen, die Vernunft über das offenbarte Wissen zu stellen, von allem sinnlichen Erleben abzuheben und die Herzenserkenntnis zu ignorieren.[ 2 ] Wie sich zeigen wird, verbinden Attar noch andere Denklinien mit Pascal. Den Haupttext eröffnet Attar dann mit dem Eingeständnis, daß sein Buch die Leser abschrecken könnte: Was darin gesagt werde, das klinge verboten und verquer, «krumm wie ein Bogen» (0, 55). In der «Zunge des Zustands» jedoch, in der mystisch-poetischen Rede, werde wahr, was in der normalen Rede Lüge sei.
    Die Erzählung hebt an mit der mißlichen Lage des Wanderers. Mit sich und der Welt zerfallen, hält er vergebens Ausschau nach dem Schimmer einer Hoffnung. Den Mitmenschen zürnt er und noch mehr sich selbst. Keinem Lehrer traut er, keinem Meister. Weder auf die Zoroastrier will er sich einlassen noch zu den Derwischen stoßen. Bettelarm, ohne Freund, Frau, Familie, hält er sich selbst für wertloser als einen Stein. Gut und Böse kann
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