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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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doch war er sicher, daß dieses ausführliche Resümee nur der Prolog zu einer viel schwierigeren Entscheidung war, die er zu treffen haben würde. »Wann machen Sie das – morgen?«
     »Guter Gott, nein!« Dr. Knight lachte unwillkürlich. Dann sprach er weiter, um die Spannung zwischen ihnen zu zerstreuen. »Frühestens in etwa zwei Wochen, es ist ein äußerst kompliziertes Stück Arbeit. Wir müssen alle Nervenenden und Sehnen identifizieren und markieren und dann eine umfangreiche Knochenverpflanzung vorbereiten. Wenigstens einen Monat lang werden Sie ein künstliches Bein tragen – glauben Sie mir, am Ende werden Sie sich danach sehnen, wieder auf einem richtigen Bein zu stehen. Nun, Conrad, darf ich annehmen, daß Sie im großen und ganzen einverstanden sind? Wir brauchen Ihre Erlaubnis und auch die Ihres Onkels.«
     »Ich glaube schon. Ich möchte mit Onkel Theodore sprechen. Es bleibt mir aber wohl kaum eine andere Wahl.«
     »Sehr vernünftig.« Dr. Knight streckte ihm die Hand entgegen. Als Conrad sie ergreifen wollte, merkte er, daß Dr. Knight ihm absichtlich eine haarfeine Linie zeigte, die um die Daumenbasis herumführte und dann in der Handfläche verschwand. Der Daumen schien richtig zu der Hand zu gehören und stach doch irgendwie ab.
     »Richtig«, sagte Dr. Knight. »Ein kleines Beispiel für restaurative Chirurgie. Es wurde ausgeführt, als ich Student war. Ich verlor das Endglied, nachdem ich mich im Seziersaal infiziert hatte. Der ganze Daumen wurde ausgetauscht. Er hat mir gute Dienste geleistet, ohne ihn hätte ich nicht Chirurg werden können.« Dr. Knight zeigte Conrad den Verlauf der Narbe über die Handfläche. »Es gibt natürlich kleine Unterschiede, die Gelenkigkeit zum Beispiel – . dieser ist etwas beweglicher, als mein eigener war, und der Nagel hat eine andere Form, aber sonst fühlt er sich ganz wie ein Teil von mir an. Es liegt auch ein gewisses altruistisches Vergnügen darin, einen Teil eines anderen Menschen am Leben zu erhalten.«
     »Dr. Knight – der Fahrer des Wagens. Wollen Sie mir etwa sein Bein geben?«
     »So ist es, Conrad. Ich müßte es Ihnen sowieso sagen, der Patient muß mit dem Spender einverstanden sein – manche Leute zögern natürlich, sich einen Teil eines Verbrechers oder Psychopathen einpflanzen zu lassen. Wie ich schon erklärte, ist es für einen Patienten in Ihrem Alter nicht einfach, den geeigneten Spender zu finden…«
     »Aber, Doktor…« Zum erstenmal war Conrad von Dr. Knights Argumentation bestürzt. »Es muß doch einen anderen geben. Nicht daß ich einen Groll gegen ihn hätte, aber… Es gibt noch einen anderen Grund, nicht?«
     Dr. Knight nickte nach einer kleinen Weile. Er ging von dem Bett weg, und Conrad meinte für einen Augenblick schon, er würde den ganzen Fall aufgeben. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und zeigte zum Fenster hinaus.
     »Conrad, ist Ihnen, seit Sie hier sind, schon einmal die Frage gekommen, warum dieses Krankenhaus leer ist?«
     Conrad zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es zu groß. Wie viele Patienten kann es denn aufnehmen?«
     »Etwas über zweitausend. Es ist groß, aber vor fünfzehn Jahren, bevor ich herkam, war es kaum groß genug, um alle Patienten aufzunehmen. Die meisten von ihnen waren geriatrische Fälle – Männer und Frauen in den Siebzigern und Achtzigern, bei denen eines oder mehrere lebenswichtige Organe ausgetauscht wurden. Es existierten ungeheuer lange Wartelisten, viele der Patienten versuchten stark überhöhte Honorare zu bezahlen – Bestechungsgelder, wenn man so will –, um vorgezogen zu werden.«
     »Wo sind sie alle hin?«
     »Eine interessante Frage – die Antwort erklärt zum Teil, warum Sie hier sind, Conrad, und warum wir uns für Ihren Fall besonders interessieren. Wissen Sie, Conrad, etwa vor zehn oder zwölf Jahren bemerkten die Krankenhausverwaltungen im ganzen Land, daß die Aufnahmezahlen zurückgingen. Zunächst waren sie erleichtert, aber der Rückgang hat sich jedes Jahr fortgesetzt, und jetzt beträgt die Zahl der Aufnahmen nur noch ein Prozent der ursprünglichen Zahl. Und die meisten dieser Patienten sind Chirurgen und Ärzte oder Pflegepersonal.«
     »Aber, Doktor – wenn sie nicht herkommen…« Conrad mußte an seine Tante und seinen Onkel denken. »Wenn sie nicht herkommen, bedeutet das doch, daß sie lieber…«
     Dr. Knight nickte. »Genau, Conrad. Sie wollen lieber sterben.«

    Eine Woche später, als sein Onkel ihn wieder besuchte,
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