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0643 - Schlangenträume

0643 - Schlangenträume

Titel: 0643 - Schlangenträume
Autoren: Werner Kurt Giesa
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Entgeistert starrte Ghoyashar das Biest an. Es war eine Kobra, hatte sich halb aufgerichtet und ließ den dreieckigen Kopf hin und her pendeln. Die gespaltene Zunge bewegte sich. Jeden Moment konnte das Reptil sich vorwärtsschnellen und seine spitzen Giftzähne in Ghoyashars Körper schlagen!
    Für ein paar Sekunden war der Trucker wie gelähmt. Er war nicht in der Lage, irgend etwas zu tun. Er konnte nicht einmal mehr darauf achten, wie sein Sattelschlepper fuhr.
    Zum Glück führte die Straße in diesem Abschnitt schnurgerade aus.
    Dennoch kam er leicht nach links ab.
    Bei einem Tempo von rund 90 km/h zog er allmählich auf die linke Fahrspur und näherte sich bedenklich dem gut fünfzehn Meter breiten Grünstreifen, der die Fahrtrichtungen des vierspurigen Highways voneinander trennte.
    Ein anderer Fahrer, der mit seinem Wagen gerade zum Überholen angesetzt hatte und jetzt scharf abbremsen mußte, hupte wütend.
    Ghoyashar zuckte zusammen. Er sah, wie der linke Fahrbahnrand immer näher kam, und riß am Lenkrad. Der 40-Tonner kam ins Schlingern. Der Inder, der längst einen amerikanischen Paß besaß, fluchte wild, kurbelte am Lenkrad und versuchte das Gespann wieder zu stabilisieren. Der schwere Truck wurde hin und her geworfen. Der vollbeladene, schwere Auflieger drohte die Zugmaschine aus dem Kurs zu drücken.
    Für fast eine Minute hatte Ghoyashar genug damit zu tun, den Sattelschlepper wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Darüber hätte er beinahe die Schlange vergessen. Keinen Unfall zu verursachen, war ihm im Moment wichtiger gewesen. Das Entsetzen über das Ausbrechen des schweren Fahrzeugs hatte alle anderen Gedanken und Reaktionen überlagert; er hatte instinktiv gehandelt, um den Truck wieder sicher rollen zu lassen.
    Längst hatte er den Fuß vom breiten Gaspedal genommen und ließ das Fahrzeug ausrollen. Andere Fahrzeuge zogen wild hupend an ihm vorbei, während der Truck immer langsamer wurde und sich dem Schotterstreifen rechts neben dem Asphalt näherte. Ghoyashar wollte jetzt nur noch eines: Anhalten und verschnaufen, sich von dem doppelten Schreck erholen. Erstens der Beinahe-Unfall, zweitens die Kobra auf dem Beifahrersitz…
    Aber da war keine Kobra.
    Da war nur Alice, die ihn besorgt ansah.
    »Was war denn los, Ranga?« fragte sie. »Ist etwas mit dem Truck?«
    ***
    Tief atmete er durch und versuchte sich zu beruhigen. Wieso hatte er eben eine Schlange gesehen, wo vorher und jetzt auch wieder Alice saß, die hübsche Anhalterin?
    Eine Halluzination?
    Darunter hatte er doch noch nie gelitten, und er hatte auch keine Drogen zu sich genommen. In dieser Hinsicht war er sehr vorsichtig. Selbst bei größtem Streß verzichtete er darauf, irgendwelche Hallo-Wach -Pillen zu nehmen, wie es viele Kollegen taten. Da verzichtete er lieber auf Sonderprämien, plante seine Touren lieber mit etwas großzügigerem Spielraum und wurde nicht reich.
    Okay, im Gegensatz zu vielen anderen Truckern brauchte er keine Familie zu ernähren, und er brauchte auch keine hohen Kreditraten für ein neugebautes Haus abzubezahlen. Er war allein, und er hatte seinen Truck zu seinem Haus gemacht. Damals in Indien hatte er in einer kleinen Hütte mit über einem Dutzend Geschwistern, Eltern und Großeltern nicht annähernd so komfortabel gelebt wie hier allein in seinem Truck. Hier brauchte er seine Schlafpritsche mit niemandem zu teilen - höchstens vielleicht mal mit einem Girl, das ihm gefiel. Er hatte seine Mini-Küche, er hatte seinen Fernseher mit der Sat-Antenne auf dem Dach der geräumigen Schlafkabine. Duschen konnte er in den Hygieneräumen der Truck Stops. Seine Bankgeschäfte erledigte er per Bankautomat, Kreditkarte oder Internet; dafür gab’s ein Notebook, das ans Mobiltelefon angeschlossen war.
    Weil für ihn außer für seinen Truck und seine eigenen Ansprüche keine weiteren Kosten anfielen, und weil er nicht den Ehrgeiz hatte, Multimilliardär zu werden - im Vergleich zu den Bedingungen in Indien lebte er hier schon im Luxus, obgleich er der Statistik zufolge eher an der Armutsgrenze angesiedelt war -, war er nicht darauf angewiesen, zu hetzen und um Aufträge mit knappsten Fahrzeiten zu kämpfen. Er konnte es etwas ruhiger angehen lassen und auch mal etwas länger ausschlafen.
    Und bisher hatte er nie gesundheitliche Probleme gehabt. Etwas zu sehen, das es in Wirklichkeit gar nicht gab -das war eine völlig neue Erfahrung, aber eine, die er lieber nicht hätte machen wollen.
    »He, Mann, was ist
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