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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch
Autoren: J. G. Ballard
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für sie. Du sollst etwas wiederbekommen, was dein gutes Recht ist, die Fähigkeit, zu gehen, zu laufen und zu tanzen. Dein Leben soll nicht über die natürliche Spanne hinaus verlängert werden.«
     »Natürliche Spanne?« Conrad wiederholte die Worte überdrüssig. Er rieb an den Gurten seines Beines unter der Hose. »In manchen Teilen der Welt liegt die natürliche Lebensspanne noch bei eben über Vierzig. Ist sie nicht relativ?«
     »Nicht ganz, Conrad. Nicht über einen gewissen Punkt hinaus.« Er schien wenig geneigt zu sein, das Streitgespräch fortzusetzen.
     Sie erreichten den Eingang zu einer der Wohnanlagen. Einer der vielen Leichenbestatter der Stadt hatte hier ein neues Büro eröffnet, und Conrad sah im Schatten hinter den in Blei gefaßten Fenstern ein Gebetbuch auf einem Mahagonipult und diskrete Fotos von Leichenwagen und Grabstätten. Wie versteckt es auch war, die Nähe des Büros zu den Alten Wohnheimen störte Conrad genauso, als hätte man eine Reihe von frisch grundierten Särgen zur Besichtigung auf dem Bürgersteig aufgestellt.
     Sein Onkel zuckte nur die Achsel, als Conrad das erwähnte. »Die Alten sehen die Dinge realistisch, Conrad. Sie fürchten den Tod nicht so und nehmen ihn auch nicht ganz so sentimental wie jüngere Leute.«
     Als sie vor einem der Chalets stehenblieben, nahm er Conrads Arm. »Eine kleine Warnung hier, Conrad. Ich möchte dich nicht erschrecken, mein Junge, aber du wirst hier einen Mann kennenlernen, der seine Gegnerschaft gegen Dr. Knight in die Praxis umzusetzen gedenkt. Vielleicht wird er dir in einigen Minuten mehr erzählen, als ich oder Dr. Knight in zehn Jahren erzählen könnten. Sein Name ist übrigens Matthews, Dr. James Matthews.«
     »Doktor?« wiederholte Conrad. »Meinst du, ein Doktor der Medizin?«
     »Genau. Einer der wenigen. Aber laß uns warten, bis du ihn triffst.«
     Sie näherten sich dem Chalet, einem bescheidenen kleinen Zweizimmerheim mit einem kleinen, ungepflegten Garten davor, der von einer hohen Zypresse beherrscht wurde. Die Tür öffnete sich, sobald sie den Klingelknopf berührten. Eine alte Nonne in der Tracht eines Schwesternordens ließ sie mit einem kurzen Gruß ein. Eine zweite Nonne mit aufgekrempelten Ärmeln überquerte den Gang zur Küche mit einem Porzellanbecken. Trotz ihrer Anstrengungen herrschte ein unangenehmer Geruch im Haus, den die reichliche Verwendung von Desinfektionsmitteln nicht überdecken konnte.
     »Mr. Foster, bitte warten Sie ein paar Minuten. Guten Morgen, Conrad.«
     Sie warteten in dem schäbigen Wohnzimmer. Conrad studierte die eingerahmten Fotografien über dem Rollschreibtisch. Eins zeigte eine vogelähnliche grauhaarige Frau, die er für die verstorbene Mrs. Matthews hielt. Das andere war das alte Immatrikulationsfoto einer Studentengruppe.
     Dann wurden sie in das kleine rückwärtige Schlafzimmer geführt. Die zweite Nonne hatte die Geräte auf dem Nachttisch mit einem Laken zugedeckt. Sie zog die Bettdecke glatt und ging in den Flur hinaus.
     Auf seine Stöcke gestützt, stand Conrad hinter seinem Onkel, während der auf den Mann im Bett hinuntersah. Der saure Geruch war stechender und schien direkt von dem Bett auszugehen. Als sein Onkel ihn heranwinkte, konnte Conrad zuerst das eingefallene Gesicht des Mannes in dem Bett nicht sehen. Die grauen Wangen und das graue Haar verschwammen schon in den ungestärkten Laken, über denen Schatten der zugezogenen Fenster lagen.
     »James, das ist Elizabeths Sohn, Conrad.« Sein Onkel zog einen Holzstuhl heran und winkte Conrad, sich zu setzen. »Dr. Matthews, Conrad.«
     Conrad murmelte etwas und merkte, daß die blauen Augen sich auf ihn gerichtet hatten. Was ihn an dem sterbenden Mann im Bett am meisten überraschte, war sein verhältnismäßig niedriges Alter. Obgleich ein Mittsechziger, war Dr. Matthews doch zwanzig Jahre jünger als die Mehrheit der Mieter in dieser Wohnanlage.
     »Er ist zu einem ganz ansehnlichen Burschen herangewachsen, nicht wahr, James?« bemerkte Onkel Theodore.
     Dr. Matthews nickte, als sei er an ihrem Besuch nur halb interessiert. Sein Blick ruhte auf der dunklen Zypresse im Garten. »Das ist er«, sagte er schließlich.
     Conrad wartete unbehaglich. Das Gehen hatte ihn ermüdet, und seine Hüfte schien wieder wund zu sein. Er überlegte sich, ob sie von hier nicht ein Taxi rufen könnten.
     Dr. Matthews drehte den Kopf zu Conrad und seinem Onkel herum. Er schien in der Lage zu sein, jeden der beiden mit
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