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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei
Autoren: Andrej Kurkow
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„kleinen Mascha“ hatte dann Twerin selbst geschrieben, und das hieß, er, Dobrynin, durfte überhaupt nicht daran zweifeln, dass es seine Tochter war. Denn zweifeln hieß, dem Genossen Twerin nicht glauben, und das war dasselbe wie Verrat an der Heimat. So dachte Dobrynin.
    Dmitrij Waplachow, der sah, dass sein Gefährte in tief­gehende Überlegungen verstrickt war, stellte ihm keine Fragen mehr.
    Bald waren die Nudeln gar, und die Volkskontrolleure setzten sich zum Abendessen.
    Der nächste Arbeitstag begann ebenso wie der vorangegangene. Wieder eilten die Arbeiterinnen herbei, wieder bedrängten sie die Kontrolleure tränenreich, sie doch für einen Augenblick hineinzulassen: die eine wollte ihrem kleinen Sohn unbedingt etwas Süsses bringen, eine andere machte sich Sorgen um ihr ja noch so kleines Töchterchen.
    Dobrynin stand im Türrahmen und wankte nicht. Er stand da und dachte darüber nach, dass die Väter dieser Kinder um vieles standhafter und disziplinierter waren, denn von ihnen versuchte kein einziger ins Leninzimmer vor­zudringen.
    Waplachow stand an der zweiten Tür und dachte an Tanja Seliwanowa. Plötzlich hörte er von irgendwo oben Kinderlachen. Er verdrehte den Kopf, blickte zu den sich unter der Decke ausbreitenden Hängestegen und sah auf einmal, wie dort oben eine Kindergestalt vorbeihuschte.
    „He, hallo, he!“, schrie Wapalachow, um die Aufmerksamkeit irgendeines der Arbeiter zu wecken, die sich dort oben befanden. Aber sein Ruf flog bis zur hohen Decke, wurde dort zu einem dröhnenden Echo und verhallte. Und niemand schaute herunter, niemand eilte die Treppen herab.
    ‚Ist dort etwa gar keiner?‘, dachte der Urku-Jemze.
    Waplachow verstand, dass er seinen Posten nicht einfach verlassen durfte, aber gleichzeitig packte ihn eine immer größere Unruhe, wenn er an dieses Kind dachte, das dort herumlief, wohin er selbst sich aus Höhenangst nie hinaufgewagt hatte.
    Da erscholl in der Stille der Haupthalle ein schriller Kinderschrei wie zerspringendes Glas.
    Waplachow schrak auf, schob an der Tür, die er bewachen sollte, den Riegel vor und eilte zur nächsten Treppe.
    Die metallenen Stufen ächzten unter seinen Füßen.
    Der Schrei wiederholte sich, und so viel Angst und Verzweiflung lagen darin, dass der Urku-Jemze, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, über schwankende Hängestege rannte, genau dorthin, wo das Kind schrie.
    Das Dröhnen des metallenen Netzes aus Stegen und Treppen, das unter Waplachows Füßen wackelte, erfüllte die ganze Halle. Sein schneller Lauf machte ihm selbst schon Angst, aber immer noch ertönte das in all diesem Dröhnen kaum noch vernehmbare Schreien des Kindes, und Waplachow rannte, er rannte zu Hilfe.
    Irgendwann hörte er plötzlich ein Platschen, ganz in seiner Nähe. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Dann eilte er zu dem in der Ecke stehenden offenen Tank und sah dort, in dem bis an die stählernen Ränder schwappenden Spiritus, einen kleinen Jungen im Matrosenanzug, der mit den Ärmchen schlug und aus Leibeskräften schrie. Er strampelte in der Mitte des gewaltigen Tanks und es war klar, dass er auch den ihm am nächsten liegenden Rand nicht erreichen könnte.
    Voll Entsetzen stellte Waplachow sich vor, wie das Kind auf den klaren Grund dieses tiefen Behälters sank, stellte sich die bleiche, zu Tode erschrockene Mutter vor. Und er dachte: Was, wenn das mein Kind wäre?
    Und schon brachte irgendeine Kraft Waplachow dazu, Anlauf zu nehmen und über das niedrige Geländer in diesen mit Spiritus gefüllten Bottich zu springen. Sein Schwung trug ihn direkt zu dem Jungen hin, Waplachow nahm all seine Kraft zusammen, packte das Kind und schob es vorwärts, zum nächsten stählernen Rand. Die Welle, die mit Waplachows Sprung in den Spiritus entstanden war, half dem Jungen, mit seinen kleinen Händchen den Rand zu erreichen.
    Waplachow ruderte ungeschickt mit den Armen, während er versuchte, dem Kind nach zu schwimmen. Der Spiritusdampf zwickte ihn in der Nase. Die Augen brannten. Wild in der Flüssigkeit strampelnd, erreichte der Urku-Jemze den Jungen und packte ihn an der kleinen Ferse, die in einer Sandale steckte. Darauf stieß er mit letzter Kraft seinen Arm hoch und sah, wie das Kind halb aus dem Spiritus heraus flog und über den niedrigen stählernen Rand des Bottichs glitt, unter dem Geländer hindurch flutschte und auf dem metallenen Steg landete.
    ‚Es ist geschafft‘, dachte Waplachow erleichtert und völlig entkräftet.
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