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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei
Autoren: Andrej Kurkow
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Schritt auf das Kopfsteinpflaster knallend vorbei.
    Dobrynin schloss die Augen und spürte sogleich auf den Wangen die Wärme der morgendlichen Frühlingssonne.
    Waplachow kniff ebenfalls die Augen zusammen. Ein leichter Wind zerzauste sein graues Haar. Seine Seele war ruhig und froh. In seinem Herzen war Feiertag, und Waplachow dachte daran, dass ganz genau derselbe Feiertag jetzt wohl auch in Tanja Seliwanowas Herzen war. Es war nicht schlimm, dass sie ihm noch nicht geschrieben hatte. Die Hauptsache war, dass er ihr geschrieben hatte und sie seine Gedanken und Gefühle nun kannte. Und Tanja Seliwanowa hatte sein Foto. Vielleicht stand dieses Foto nun in einem schlichten Rahmen auf dem Nachttischchen am Kopfende ihres Bettes, vielleicht aber bewahrte sie sein Foto auch an ihrem Arbeitsplatz in den Mantelwerkstätten auf.
    Über dem Horizont der Straße der Gewerkschaften er­schienen als Erstes Fahnen und Transparente, dann tauchten auch die Menschen auf, festlich gekleidet, mit breitem Lächeln, „Hurra!“ rufend.
    Dobrynin, Waplachow und die anderen, die auf der Tribüne standen, winkten den vorüber gehenden Demonstranten froh zu und lächelten ebenso breit und fröhlich, während sie den Blicken bekannter und unbekannter Krasnoretschensker begegneten.
    Anschließend marschierte eine Kolonne Pioniere vorbei. Die Kapelle verstummte eine Zeitlang, und Hunderte von Kinderstimmen sangen: „Werft, Pioniere, Brand in die Nächte! Wir sind die Erben der Arbeiterrechte.“ Dobrynin sah auf diese kleinen Buben und Mädchen und beneidete sie von ganzem Herzen.
    Er hatte so eine glückliche Kindheit nicht gehabt. Als Bub hatte er für den örtlichen Gutsbesitzer die Kühe gehütet. Er hatte sie von Sonnenaufgang bis zum späten Abend gehütet, und wäre nicht die Revolution gekommen, dann würde er das wohl noch immer tun.
    Auf die Kolonne der Pioniere folgte die Kolonne der Oktoberkinder. Die jungen Trommler schritten voraus und ließen klingende Wirbel ertönen. Über der Kolonne schwebten sanft sich wiegende Luftballons, Rotarmisten, Arbeiter und Matrosen.
    Beim Anblick der aufgeblasenen Gummifiguren drehte Dobrynin sich zu Dmitrij Waplachow um. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Er dachte an Sarsk, daran, wie viele ihrer Kräfte der Urku-Jemze und er der Fabrik für Aufblasgummi gegeben hatten! Und hier sahen sie jetzt den offensichtlichen Nutzen ihrer noch nicht lang zurückliegenden Tätigkeit.
    Auch Waplachow wandte sich Dobrynin zu. Ihre Blicke und ihr Lächeln trafen sich. Und so vieles schwang jetzt in dieser von der Sonne erwärmten Mailuft, so vieles kam zwischen den beiden alten Freunden auf, dass beide tief Atem holten und keiner etwas sagen konnte – denn in einem Atemzug sprach man nicht all die Gefühle aus, die sich in langen Jahren im Herzen angesammelt hatten, angefangen von ihrer Bekanntschaft im fernen, gefahrenvollen Hohen Norden! Und hätte es diese Bekanntschaft nicht gegeben, dann hätte Dobrynin diesen Ersten Mai wohl gar nicht erblickt.
    Da umarmten sich Dobrynin und Waplachow unter den verwunderten Blicken der leitenden Angestellten und Armeekommandeure der Stadt Krassnoretschensk, die nichts von alldem wussten.
    Die Oktoberkinder blieben vor der Ehrentribüne stehen und drehten die Gesichter zur roten Stoffbahn mit dem Leninporträt, die hinter der Ehrentribüne flatterte.
    Auf dem Platz erklang der Sprechchor der Oktoberkinder, und gleichzeitig, als hätten sie sich plötzlich losgerissen, flogen über der Tribüne alle Luftballons auf, und mit ihnen auch die aufgeblasenen Rotarmisten, Arbeiter und Matrosen. Sie flogen hoch hinauf, über die Dächer der dreistöckigen Häuser hinaus. Immer höher stiegen sie am Firmament, bis sie ein Wind erfasste, der sie durcheinander wirbelte und am Himmel über der Stadt auseinander trieb.
    Dutzende Erwachsenenaugen und Hunderte von Kinderaugen blickten nach oben, ihnen hinterher. Auch die beiden Generäle legten schützend die Hand über die Augen und blickten hinauf, ebenso einer der Regimentskommandeure, der ein Fernglas hielt, und auch die beiden Volkskontrolleure, für die diese in den Himmel aufgestiegenen aufgeblasenen Figuren viel mehr bedeuteten als für alle übrigen.

    ***

    Wenige Tage später fing durch einen Blitzschlag der Kindergarten der Fabrik Feuer und verbrannte zu Asche. Es war in der Nacht geschehen, und früh morgens bereits, gegen fünf Uhr, wurden Dobrynin und Waplachow ins Stadt­komitee bestellt.
    Alle, die vor Kurzem noch
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