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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei
Autoren: Andrej Kurkow
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Da zog ihn eine ungeahnte Kraft nach unten.
    Erschrocken sah er sich um, versuchte den nahen Rand mit der Hand zu erreichen und schaffte es nicht. Da schrie er, schrie aus Leibeskräften. Sein Schrei, von einem dröhnenden metallenen Echo aufgenommen, scholl durch die ganze Halle.
    Jetzt hallten Hängestege und Treppen unter den Füßen der eilig Herbeilaufenden. Auf den Schrei hin rannten Arbeiter in schwarzen Arbeitsanzügen hinzu. Ihnen hinterher rannte Pawel Dobrynin, der seinen Posten verlassen hatte. Er ahnte nichts von dem gerade Geschehenen, glaubte einem Unbekannten zu Hilfe zu eilen.
    Die Arbeiter, die bei dem Tank ankamen, erblickten auf dem Steg den bewusstlos liegenden kleinen Jungen im Matrosenanzug. Einer der Arbeiter warf einen Blick in den Tank und schrak zurück. Er versuchte seinen Genossen etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, und nur abgerissenes Gestammel entrang sich ihm.
    Dort unten in fünf Metern Tiefe schwebte Dmitrij Waplachow mit ausgebreiteten Armen. Seine offenen Augen sahen still zur metallenen Decke der Halle herauf.
    Atemlos traf Dobrynin ein. Als erstes erblickte er den Jungen, kauerte einen Augenblick neben ihm, legte ihm die Hand an die Brust und fühlte seinen Herzschlag.
    Darauf blickte er den Arbeitern über die Schulter in den Tank, und da ergriff ihn ein Schauer am ganzen Körper.
    „Was macht ihr denn!“, schrie er die reglos herumstehenden Arbeiter an. „Was macht ihr denn?!“
    Dann stieß er sie beiseite und sprang in den Tank. Er tauchte hinab auf den Grund, hob seinen ertrunkenen Ge­fährten hoch und schwamm an die Oberfläche. Er erreichte den Rand und spürte, wie die Kräfte ihn verließen, wie der Spiritus in den Augen brannte. Doch da packten ihn und Waplachow starke Arbeiterhände und zogen sie auf den Steg.

    Dobrynin kam in einem Zimmer des Werkskrankenhauses zu sich. Neben ihm machte sich eine Krankenschwester zu schaffen und bereitete eine Injektion für ihn vor.
    Noch immer taten ihm die Augen weh, und in seinen Ohren hing ein Rauschen.
    „Wie geht es Dmitrij?“, fragte er die Krankenschwester.
    Sie sah ihn an und biss sich auf die Unterlippe. Stumm schüttelte sie kaum merklich den Kopf.
    Dobrynin begriff alles. Er wandte sich ab und blickte an die weiße Decke. Schwere senkte sich auf seine Brust, langsam, aber stetig, und Dobrynin versuchte sie aufzuhalten, hob beide Arme, um sich zu wehren. Doch die Schwere war stärker, und seine Hände konnten sie einfach nicht aufhalten. Immer tiefer sanken seine Arme, bis sie kraftlos aufs Bett zurückfielen. Sein Atem stockte, die weiße Decke senkte sich auf seine geöffneten Augen, und ein furchtbarer Schmerz, der gleichsam direkt in den Augäpfeln entstand, durchlief in Wellen seinen ganzen Körper. Der Körper zuckte, der linke Arm hob sich ein wenig, um gleich darauf hilflos herab zu sinken.
    Die Krankenschwester ergriff diesen reglosen Arm, rieb die Armbeuge rasch mit Spiritus ab und bohrte die Nadel ihrer Spritze in die blaue, geschwollene Vene. Die Hände der Schwester zitterten.
    Langsam hob sich die Decke wieder über Dobrynin. Er regte sich, sah die über ihn gebeugte Krankenschwester an, sah ihre Lippen, die sich bewegten, aber er hörte nichts – etwas drückte auf seine Ohren.
    Die Schwester, ein junges Mädchen im weißen Kittel, trat ans Fenster und blickte hinaus. Draußen ging ein feiner Nieselregen nieder.
    Als sie an das Bett des Patienten zurückkehrte, schlief der bereits, auf dem Rücken liegend, das Kinn hochgereckt.
    Die Schwester zog die Decke noch etwas höher, steckte sie fest und setzte sich neben das Bett auf einen Hocker. Auch sie hätte am liebsten geschlafen, doch ihr Dienst hatte gerade erst angefangen.
    Draußen auf der Straße ging Fabrikdirektor Limonow im Nieselregen Richtung Krankenhaus. In seiner ausgebeulten braunen Aktentasche brachte er Äpfel für den Volkskontrolleur.

Deutsche Gedicht- und Liedzitate:
    S. 232: „Herrlicher Baikal, du heiliges Meer“, deutsch von Ernst Busch
    S. 252f.: „Du schreibst mir“, Jossif Utkin, deutsch von Heinz Kahlau (Militärverlag der DDR, 1987: Er war mein Freund, mein Kampfgefährte. Lyrik aus dem Großen Vaterländischen Krieg)
    S. 388: „Gespräch mit dem Genossen Lenin“, deutsch von Franz Leschnitzer (Verlag Philipp Reclam junior, Leipzig, 1985: Wladimir Majakowski, Gedichte Russisch-Deutsch)
    S. 422: „Marsch der Jungpioniere“, deutsch von Helmut Schinkel

Andrej Kurkow

    © Foto: Fotowerk
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