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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei
Autoren: Andrej Kurkow
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lächelnd und winkend auf der Ehrentribüne gestanden hatten, saßen jetzt an einem langen, polierten Tisch, gähnten und streckten sich. Die Frage war ernst und musste schnell entschieden werden, noch bevor der Arbeitstag begann. Die Versammelten hatten Mühe, schon klar zu denken.
    „Bitte nehmen Sie zur Kenntnis“, sagte der Leiter des Stadtkomitees, „wir werden diesen Raum nicht eher verlassen, als bis wir entschieden haben, wohin mit den Kindern, bis ein neuer Kindergarten gebaut ist!“
    Gegen sieben war die Sitzung beendet. Man hatte beschlossen, den Arbeiterinnen zu gestatten, ihre Kinder zur Arbeit mitzubringen. In der Spiritusfabrik, so war es entschieden, würde dafür eine Ecke im Leninzimmer reserviert und eine der jungen Arbeiterinnen des Werks würde als Kinder­gärtnerin dorthin abgestellt werden. Mit den Kindern der Militärs gab es keine Probleme – bereits in der Nacht hatten Soldaten begonnen, auf dem Gelände ihrer Einheit Zelte aufzustellen, und ein Sergeant hatte sich erboten, zeit­weilig auf die Kinder der Offiziere und Fähnriche aufzupassen. Übrig blieben die nicht untergebrachten Kinder der Ange­stellten aus Handel und Dienstleistungen, aber die hielten sich ohnehin öfter am Arbeitsort ihrer Eltern auf, als im Kindergarten.
    Unausgeschlafen trafen Dobrynin und Waplachow in der Fabrik ein und erkannten sehr bald, dass sie in den nächsten Stunden mit doppelter Hingabe würden arbeiten müssen.
    Vom frühen Morgen an, kaum dass man alle Kinder im direkt an die Haupthalle grenzenden Leninzimmer versammelt hatte, verfiel die Disziplin im Werk schlagartig, ja sie brach vollkommen ein. Die Arbeiterinnen versuchten jede halbe Stunde für fünf Minuten ihre Arbeitsplätze zu verlassen, um zur Haupthalle zu eilen, einen Blick ins Lenin­zimmer zu werfen und nachzusehen, wie es dort ihrem Söhnchen oder Töchterchen ging.
    Vor dem Mittagessen ließ Direktor Limonow die Volkskontrolleure zu sich kommen und befahl ihnen, jegliche Bewegung in den Abteilungen zu verbieten und alle Störer der Disziplin für eine nachfolgende Bestrafung vorzumerken.
    Dobrynin stellte sich am einen Eingang der Haupthalle auf, Waplachow an der anderen. Die Frauen weinten und flehten darum, sie hineinzulassen, damit sie nach ihrem Kind sehen konnten. Und obgleich es die Kontrolleure hart ankam, die Tränen der Frauen zu ertragen, hielten sie dennoch eisern stand und ließen niemanden durch.
    Die Haupthalle war von gewaltigen Ausmaßen. Bis zu fünf Meter hohe stählerne Tanks erhoben sich in ihr, randvoll mit dem noch nicht in Zisternen umgefüllten Spiritus. Dutzende Stege, Treppen und frei hängende Übergänge verflochten sich unter der Decke zu einem schwarzen metallenen Spinnennetz, über das gelegentlich Menschen in schwarzen Arbeitsanzügen hin und her flitzten, um an den Ventilen und Druckanzeigern der parallel zu den Stegen verlaufenden langen Röhren Halt zu machen.
    Langsam rückte der Abend näher, und als um punkt fünf Uhr Dobrynin und Waplachow die Türen freigaben, ergoss sich in die Haupthalle ein Strom von Müttern, die sich alle beeilten, als erste das Leninzimmer zu erreichen, um ihre Kinder an sich zu nehmen und sich auf den Heimweg zu machen.
    An diesem Abend kochten die Kontrolleure sich Nudeln und redeten über das Leben. Beide waren erschöpft, doch war diese Erschöpfung nicht körperlich. Sie war eher nervlicher Art.
    „Hast du dein Foto an deine dienstliche Ehefrau ge­schickt?“, fragte Waplachow.
    „Nein“, antwortete Dobrynin.
    „Warum nicht?“
    Auf diese Frage vermochte Pawel Dobrynin nicht zu antworten. Er wusste nicht, warum er sein Foto nicht an Marija Ignatjewna geschickt hatte. In seiner Beziehung zu Marija Ignatjewna war etwas allzu Seltsames, etwas, das seine dienstliche Ehefrau gleichsam wichtiger und bedeutender machte als ihn. Darüber hinaus aber regten sich verworrene Gedanken über seinen dienstlichen Sohn Grigorij im Kopf des Volkskontrolleurs, genau wie über die im Brief von Genosse Twerin erwähnte „kleine Mascha“. ‚Wie kann denn das sein‘, dachte Dobrynin. ‚Dass meine Kinder ohne mein Zutun geboren wurden?‘ Nach diesen Zweifeln jedoch dachte er an die Ordnung, nicht die Ordnung, die man im Zimmer oder in der Küche halten konnte, sondern die vorgegebene, staatliche. Und Dobrynin fiel ein, dass er von der Geburt Grigorijs durch einen Funkspruch aus dem Kreml erfahren hatte – das aber hieß, man wusste mit Sicherheit, dass es sein Sohn war. Von der
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