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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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sich grenzenlos, während Schwester Sabine ihn stumm, aber mit völlig entnervtem Gesicht mit neuem Tupfer und Klebestreifen versorgte und kopfschüttelnd die Bettdecke abzog. Heimlich schielte er zu seinem Bettnachbarn und sah einen ›alten Hasen‹ vor sich hingrinsen.
Wie konnte ihm so etwas Blödes nur passieren? Marvin überlegte schon, ob er das Ganze nicht seinem Gehirntumor zuschieben könnte, von dem er eigentlich nichts spürte.
Als Schwester Sabine mit dem alten Bettzeug schon in der Tür stand, sagte sie leise: »Na – dann gehen Sie mal zur Toilette. Nicht, dass das auch noch daneben geht.«
Dann verschwand sie und Marvin konnte wetten, sie berichtete auf direktem Weg sämtlichen Krankenhausangestellten der Station von diesem bescheuerten neuen Patienten. Er bekam jetzt schon Angst davor, er könnte irgendwann einmal ins Bett machen.
Bald darauf bekam er neue Bettwäsche und die Oberärztin legte eine neue Nadel, diesmal in den rechten Arm. Sie erklärte ihm, dass man Infusionen eigentlich nur abstöpselt und nicht jedes Mal herauszieht, da man sonst ja immer wieder neu stechen müsste, was übrigens nur ein Arzt dürfte und somit zeitaufwendig wäre. Klar, meinte Marvin, und er erwähnte, dass er sich heute gar nicht wohlfühlte, irgendwie durcheinander. Das hätte er in letzter Zeit zu Hause häufiger gehabt, da hatte er zum Beispiel Kaffee ohne Filter in die Kaffeemaschine geschüttet und so fort … und er hatte sich schon gestern gefragt, ob das nicht mit der Erkrankung zusammenhängen könnte.
Die Ärztin antwortete nicht, fragte aber, wie er sich ansonsten fühle, ob er Übelkeit verspüre.
»Ein wenig, aber es geht schon.«
Marvin wusste, sein Unwohlsein stammte im Moment einzig von dem Gefühl, sich blamiert zu haben.
Der Feind im Nachbarbett sagte den ganzen Tag lang nichts mehr. Stattdessen schaltete er ständig den gemeinsamen Fernseher um, genau immer dann, wenn Marvin sich gerade für den einen oder anderen Beitrag zu interessieren begann. Er schwieg dazu und fragte sich wieder einmal, wozu er diese teure Privatversicherung zahlte.
Abends stöpselten sie ihn von der Infusion ab. Noch später kam Lisa. Sie hetzte zur Tür herein, trug ihren Blazer über einem Arm und ihre große rote Ledertasche auf der anderen Seite. Mit einem angedeuteten Kuss auf beide Wangen begrüßte sie ihn, warf dabei ihren Zopf von der Schulter nach hinten. Dann zog sie sich umständlich den Besucherstuhl an das Bett. Unter ihren hektischen Bewegungen wirbelte ihr Pferdeschwanz hin und her und einmal peitschte er fast in Marvins Gesicht. Am liebsten hätte er ihn festgehalten und seine Nase in ihre weichen Locken vergraben.
Sie fing an, in ihrer Tasche zu kramen.
»Entschuldige, ich bin spät. In dieser verdammten Stadt steht man jeden Tag im Stau – du kennst das ja. Der gesamte Cityring stand still. Nichts ging mehr.«
Über Staus und Verkehr überhaupt konnte sich Lisa stets maßlos aufregen. Trotzdem hatte sie heute extra an einem Kiosk gehalten, um ihm etwas zu Lesen mitzubringen. Es überraschte ihn, doch nach einem Blick auf die dicke Lektüre, die sie ihm überreichte, konnte er sein Missfallen nicht verbergen. Marvin zog die Stirn kraus.
»Ein Rätselheft?«
›Typisch Lisa‹, dachte er und erinnerte sich an die flüchtig gekauften Rätselhefte, mit denen sie ihrer Großmutter bei ihren Besuchen eine Freude machen wollte.
»Schon mal was von Gehirnjogging gehört?«, entgegnete sie angespannt.
Gehirnjogging! Er schmunzelte.
»Lisa, mal ehrlich – wer sollte sich mit diesen einfachen Denkspielen geistig fit halten? Ein bisschen mehr intellektuelles Niveau würde nicht schaden. Hältst du mich für einen senilen Mann?«
»Dass du immer alles so überbewerten musst! Du musst dich, krank, wie du bist, nicht auch noch mit hochgestochener, todernster Literatur befassen. Reine Unterhaltung würde dir jetzt wirklich mal gut tun!«
Marvin legte das „Omaheft“ nachsichtig lächelnd in den Nachtschrank – und zwar ganz nach unten; ziemlich sicher, es nie zu benutzen.
»Ist ja schon gut. Danke, dass du noch gekommen bist.«
»Nichts ist gut!« Sie war schrecklich gereizt. Ihre Stimme klang hoch und schnell. »Du bist hier im Krankenhaus. Das ist kein Ort, schon wieder den ›Intellektuellen‹ heraushängen zu lassen!«
Das schadenfrohe Grinsen seines Bettnachbarn bei den letzten Worten entging Marvin aus dem Augenwinkel nicht. Er durfte wohl nicht annehmen, dass dieser Kerl das Zimmer von sich aus pietätvoll
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