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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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drückte.
Noch bevor er das Bett erreichte, rannte er schon wieder los. Nochmals Erbrechen! Doch diesmal gab es nichts, was er hätte ausspeien können. Was für eine Qual! Er spuckte von sich, was er konnte. Entkräftet und diesmal gleichgültig gegenüber seiner Kleidung schleppte er sich aus dem Bad. Aber bereits nach wenigen Schritten zwang ihn sein Körper erneut zurück.
So verging sein Vormittag. Erschöpftes Liegen, aufstehen, zum Klo rennen – erbrechen und wieder hinlegen. Es war ein ständiges Loslaufen, ein Kreislauf zwischen Trinken und Erbrechen. Die Schwestern brachten Brechschalen und Getränke.
Schließlich ließ ihn der ungestillte Würgereiz in die Knie gehen und die fremde Kloschüssel umarmen. Es war ihm völlig egal. Er wollte sich vom Boden hochstemmen und etwas Wasser aus dem Kran nehmen. Aber seine Beine schafften es nicht mehr. Marvin würgte, bis die Rippen schmerzten, und so lange, bis er vor Entkräftung zur Ruhe kam.
Irgendwann spürte er von hinten Hände unter seinen Achseln und sah das Gesicht einer blonden Krankenschwester vor sich. Man hievte ihn zu zweit auf einen fahrbaren Toilettenstuhl und von diesem zurück auf sein Bett. Zu seiner Verwunderung gehörten die helfenden Hände unter den Achseln seinem Bettnachbarn, dem die körperliche Anstrengung einen schnaufenden, hochroten Kopf bescherte. Marvin versuchte, einen dankbaren Blick auf ihn zu richten.
Wenig später schloss die Ärztin ihn wieder an einen Tropf an.
»Gegen die Übelkeit!«, sagte sie sachlich. »Bis später!«
Damit ließ sie ihn für den Rest des Tages im Krankenbett zurück, mit trockenen Lippen und einem Geschmack von Saurem im Mund. Nun kamen Stunde für Stunde Schwestern, um seinen Arm mit der Blutdruckmanschette zu zerquetschen. Er nahm es hin. Die Medikamente aus dem Tropf ließen ihn nahezu gedankenlos vor sich hindösen. Das Einzige, was ihm nun zwischen Schlafen und Dösen in den Sinn kam, war, dass man also auch so einen Tag kostbarer Lebenszeit zubringen konnte. Vielleicht war auch Lisa abends da. Ihr Gesicht jedenfalls sah er vor sich, bevor er wieder einschlief.
Am nächsten Vormittag erwachte Marvin aus seiner gefühllosen Ruhe. Die Welt erhielt seinen Geist zurück, nicht von der üblichen Schwere zwar, aber in einer Leichtigkeit, die der eines normalen morgendlichen Erwachens glich. Ungebeten meldete sich bald der von den Medikamenten unterdrückte Brechreiz zurück; nicht so stark wie gestern, jedoch schlummernd und bereit, durch eine passende Gelegenheit geweckt zu werden. Marvin versuchte, ihn zu vergessen und kramte lustlos in seinem Bettschrank herum. Lauter Mist und nichts Richtiges zum Lesen! Er ließ es sein und starrte unbeweglich auf das Gelb seiner Bettdecke. Was, wenn er den Rest seines Lebens mit Übelkeit verbringen musste? ›Man müsste eine Wahl haben‹, dachte er sich. Eine Wahl, solche Tage ganz an das Ende des Lebens zu hängen und sie bei Bedarf ersatzlos zu streichen. Doch – hätte man ihn gestern noch vor die Wahl gestellt – hätte er diesen Tag wirklich so schnell aufgegeben? Er sah sich um. Die Sonne schien hell und freundlich durch das Fenster. Heute ging es ihm doch schon wieder besser! Die Übelkeit hielt sich in Grenzen und von dem Ding in seinem Kopf spürte er nichts. Nein – das Leben war ihm noch viel zu kostbar, als dass er nach einem einzigen schlechten Tag die Hoffnung bereits aufgeben wollte. Sein Magen war da, was man ja eigentlich nicht spüren sollte, aber nun gut. Mehr war es auch nicht. Das Leben hatte ihn zurück.
Bald war es Essenszeit. Schülerin Elke brachte je ein Tablett für den Herrn aus dem Nachbarbett und eins für Marvin. Er beobachtete sie, während sie ihre Arbeit verrichtete. Eilig kam sie zu seinem Nachtschrank und stellte das Tablett darauf ab. Auf der hellen Haut ihrer Unterarme entdeckte er unzählige Sommersprossen und wie die letzten Male, wenn sie das Zimmer betrat, schmückte ein mitreißendes Lächeln ihr Gesicht. Marvin fand es unwiderstehlich. Mit Schwung hob sie diese Art unappetitliche Edelstahlhaube vom Teller, die wohl in jedem Krankenhaus der Welt das Essen warm hielt. Diese Hauben, die niemals frei von Fettfingern waren, schienen ihm nur dazu da, die dargebotene Großküchenspeise verschämt zu verstecken.
Überraschung! Eine Suppe und weißes Brot.
»Na, Herr Abel. Was halten Sie davon?«
Marvin warf einen Blick auf die grünliche Brühe. Allein die einzeln darin schwimmenden Gemüsebröckchen erinnerten ihn an seine
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