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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Zytostatikum!«
Anscheinend wollte der Schnarcher ihm klarmachen, er besäße Fachkenntnisse, die Marvin fehlten. Aber geschnitten, da konnte er mithalten.
»PCV bei Glioblastom!«, renommierte er und fügte hinzu: »Bestrahlung später mit 30 x 2 Gray!«
Das sollte wohl genügen, um dem Kontrahenten sein Fachwissen zu verdeutlichen und gar nicht erst Zweifel an seiner Kompetenz als aufgeklärtem Patienten aufkommen zu lassen. Tatsächlich nickte der Bettnachbar ernst wissend und beließ es dabei. Zufrieden mit sich selbst ließ sich Marvin in das Kissen sinken. Sein Platz hier sollte wohl erobert sein. Schlimm genug, dass er dieses Zimmer mit jemandem teilen musste.
Fünf Minuten später stand der Mitstreiter schwerfällig auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und schlurfte an Marvins Bett vorbei zur Toilette. Wie einen Wallach hörte er ihn im Bad pinkeln und es erinnerte ihn deutlich daran, ebenfalls seit einiger Zeit Druck zu verspüren. Wo blieb nur die Schwester? Er griff zur Fernbedienung und drückte nach einigem Zögern wieder den roten Knopf.
»Die Infusion ist durch!«, erklärte er erneut der Blech-Schwester aus dem Lautsprecher und neidvoll blickte er auf den Schnarchsack, der erleichtert aus dem Bad zurückkam.
»Da können Sie lange warten!«, meinte dieser im Vorübergehen, womit er nicht nur Recht haben konnte, sondern ihm auch zu Verstehen gab, dass er sich hier im Krankenzimmer als alter Hase selbstverständlich besser mit den Vorgängen auskannte als Marvin. Sollte er doch! Marvin wies auf die Infusionsapparatur, die an seinem Arm hing. So gefangen konnte er schließlich nicht aufstehen.
»Warum ziehen Sie sich das nicht selbst raus?«, meinte der alte Hase lapidar. »Einfach rausziehen und Tupfer draufdrücken. Tupfer liegen doch dort in der Schale auf ihrem Nachtschrank. Machen die Schwestern auch nicht anders!«
Damit legte sich der Hase wieder ins Bett, kehrte Marvin den Rücken zu und machte sich daran, weiterzuschnarchen.
Marvin betrachtete die, mit ein paar weißen Klebestreifen fixierte, Infusionsnadel an seinem Arm und fing nach einer Weile an, die Streifen abzuknibbeln. Schön vorsichtig, immer ein bisschen mehr. Warum nicht etwas vorarbeiten, bevor die Schwester käme. Und wenn dann immer noch niemand in Sicht wäre, könnte er sich ja auch ganz davon befreien. Schließlich war er ein erwachsener Mensch und außerdem spannte die Blase.
Gänzlich vom Klebestreifen gelöst, stellte sich die Nadel als Bestandteil einer kleinen durchsichtigen Plastikplatte dar. Das sah kompliziert aus und außerdem fragte er sich, wie er mit nur einer Hand die Nadel herausziehen und gleichzeitig mit einem Tupfer darauf drücken sollte. Egal, er musste zur Toilette, nur das hatte Vorrang. Womöglich dachte der Patient am Fenster auch schon, Marvin wäre zimperlich. Kurz entschlossen zog er an der Plastikplatte, entfernte sie samt Nadel und schnappte sich schnellstmöglich den Tupfer, um den Einstich zu verschließen. Aber Marvin war nicht schnell genug. Dort floss augenblicklich dunkelrotes Blut heraus und rann in mehreren Bahnen um den Arm herum, tropfte auf das frische gelbe Bettzeug. Es lief kitzelnd bis in seine Achseln, als er seinen Arm verzweifelt steil nach oben hielt und mit der anderen Hand auf den Einstich drückte. So saß er da, voll Blut, den Arm in der Luft, um Schlimmeres zu verhindern, das Bett versaut, und fragte sich nun, wie er in diesem Zustand jetzt endlich zur Toilette gehen sollte. Zeitgleich öffnete sich die Tür und Schwester Sabine kam herein. Schwester Sabine und leider nicht das engelhafte Gesicht der kleinen Schülerin! Sie sah ihn an, in seiner gymnastisch anmutenden Position, dann auf das blutbefleckte Bett und fragte mit einem Ausdruck totaler Entgeisterung: »Was machen Sie denn?«
Angesichts seiner Lage und des Blickes der Krankenschwester überkamen Marvin inzwischen Bedenken ob seiner Aktion. Hilflos dasitzend, während sein Arm vom Hochhalten bereits zu kribbeln begann, sagte er nur: »Die Infusion war durch und ich wollte zur Toilette.«
»Ja – warum warten Sie nicht, bis wir sie abgestöpselt haben? Und wenn Ihnen das zu lange dauert, warum gehen Sie dann nicht einfach mit der leeren Flasche ins Bad oder benutzen den Infusionsständer, der in ihrem Zimmer steht, oder kommen heraus zu uns ins Schwesternzimmer? Die Nadel herauszuziehen, war so ziemlich das Dümmste, was Sie tun konnten.«
Marvin wurde bewusst, sich gerade als Dummkopf etabliert zu haben und er schämte
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