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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Endlich! Der Schmerz war da, Marvin war da und es schien ihm in Ordnung so.
Doch kaum hatte Marvin den Schmerz in seiner ganzen Heftigkeit akzeptiert, bemerkte er eine Enge in seinem Brustkorb. Die Luft blieb ihm aus. Er kämpfte erneut, diesmal um Luft. Aber so stark er auch zog – in seiner Schwäche schaffte er kaum noch diese Anstrengung – er erlangte nie genug Luft, um satt zu werden.
Marvin, der die ganze Zeit mit geschlossenen Augen gekämpft hatte, zwang sich, die Augen zu öffnen. Die Einzelheiten um sich herum konnte er nicht erkennen, nur Helligkeit und Dunkelheit. Neben ihm sah er einen Schatten, der sich bewegte und den er für einen Menschen hielt, und er hörte ein Geräusch, das eine Stimme sein konnte. Warum war die Matratze so hart? Und warum roch es nach feuchtkalter Erde?
Plötzlich wurde ihm klar, dass er noch immer am Straßenrand lag. Der Unfall! Sie warteten wohl noch immer auf den Krankenwagen. Nur Lisa war also neben ihm. Marvin atmete schwerfällig. Der gesamte Wald musste voll frischer Atemluft sein, doch in seine Lunge wollte sie nicht mehr rein. Er spürte, dass sich sein Brustkorb zwar kaum noch hob, aber trotzdem verkrampfte. Übelkeit hatte er akzeptiert, Schmerz auch. Als er jetzt daran dachte, versuchte er, auch die Luftnot zuzulassen. Sie gehörte jetzt zu seiner Existenz, es war nicht änderbar. In diesem Moment ließ er wirklich alles zu, was kam und noch kommen sollte. Die Luftnot war auch keine Luftnot mehr, sondern ›wenig Luft‹ und er atmete flach, aber ruhig. Marvin drehte seinen Kopf zur Seite. Es kam ihm vor, als läge dort, nicht weit von ihm, jemand am Boden. Wer hatte versucht, ihn mit diesem Stoß nach vorne vor dem Auto zu retten? Wenn er nur besser sehen könnte!
Der Schatten in der Helligkeit bewegte sich, als ginge er um Marvin herum. Wer war es? War es immer noch Lisa? Marvin versuchte es, aber er konnte seinen Oberkörper nicht bewegen. Zu schwach, schaffte er es gerade, den Kopf zurückzudrehen.
Er flüsterte: »Lisa? Bist du es?«
Lisa antwortete nicht, doch er sah ihren Schatten neben sich.
»Lisa, ich weiß jetzt, wie es ist, wenn man stirbt.«
Er machte eine Pause, um Kraft zu schöpfen.
»Es ist nicht nur wie der Schaum auf sündhaft heißem Badewasser, der aufhört, sich mit dem Atem über dem Brustkorb hin und her zu wiegen. Es ist der Verlust von allem … es ist ein Gehenlassen … und die Erleichterung des nicht mehr ›Kämpfenmüssens‹ … ein Akzeptieren der Leere, die kommt und eigentlich doch schon immer da war …«
Er konnte seine Augen nicht mehr aufhalten, zu müde war er, seine Stimme nur noch ein Hauch.
»… nichts ist mehr wichtig … wenn du an nichts festhältst, kannst du auch nichts verlieren … klammere dich an nichts … hörst du Lisa?«
Doch Lisa hörte nicht. Sie war nicht da. Sie stand über Karls vom Aufprall verletztem Körper. Nur der Schatten der Bäume täuschte neben ihm Bewegung vor.
Marvin erkannte es.
Er war allein und er akzeptierte es.
Schade, dass der junge Schriftsteller jetzt nicht da ist, dachte er noch. Er würde ein überraschendes Foto für sein Album schießen können.
Nach drei Tagen im Koma starb Marvin.
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