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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Rollstuhl aus. Karl fing sie auf und bewahrte sie mit seinem Körper vor einem Sturz auf die nasse braune Erde. Es war ein Tick zu lang, wie sie an Karls Körper geschmiegt dastand und es war ein Tick zu lang, wie er sie umarmt hielt und sie sich beide fürsorglich lächelnd in die Augen sahen.
Wie ein Schwert in Bauch und Brust durchbohrte es Marvin. Auf einmal war es ihm so erklärbar, dieses seltsame Gefühl, als er den beiden vom Krankenbett aus nachgeblickt hatte. Nicht Jens, sondern Karl würde der Mann sein, der in Lisas Bad Marvins Rasierer benutzen würde. Karl würde sich auf Marvins Seite neben Lisa im Bett rekeln, ihr duftendes zerwühltes Haar in seinem Gesicht am Morgen genießen. Er würde ihre Haut streicheln, sie küssen, sich an sie schmiegen. Das war es also, was Karl in seinem Leben ändern wollte. Er war der Mann, den Lisa ihm nicht verraten wollte!
»Benutzt du eigentlich schon meinen Rasierer?«
Zusammengefahren rissen sie ihre Köpfe herum, vor Schreck noch immer umklammert, wie erstarrt aneinander geklebt, nicht in der Lage, sich so schnell zu trennen.
»Hättet ihr damit nicht bis nach meinem Tod warten können?«
Marvin brauste auf. Ungeschickt fingerte er an der Bedienung des Rollstuhls herum und brachte sich näher an die beiden heran.
»Wäre es nicht ein Mindestmaß an Anstand gewesen? Ich meine – wie lange wird es schon noch dauern … zwei Monate oder drei? Ewig lang habt ihr euer Geheimnis versteckt und jetzt könnt ihr plötzlich nicht einmal mehr warten, bis ich tot bin?! Warum lasst ihr mich nicht in Frieden sterben? Warum muss sich mir in den letzten Tagen meines Lebens die Welt mit ihrer grausamsten Seite zeigen? Warum?«
Marvin schrie!
Langsam lösten sie sich voneinander. Ihre Arme fielen herab, ihre Köpfe senkten sich verlegen.
»Vielleicht, weil du es einfach nicht sehen wolltest«, sagte Karl leise. »Das machen wir alle so. Es schützt uns vor dem Leiden.«
»Aber irgendwann holt das Leiden uns ein, was?!«
Marvin kämpfte mit Tränen.
Karl hob den Kopf und nickte. Er fasste Lisas Hand und hielt sie zur Beruhigung fest, weil sie zitterte.
»Ja, ich glaube, irgendwann holt es jeden ein. Es ist der Moment, in dem wir klar sehen.«
»Na toll, dann kann es ja nicht mehr lange dauern! So klar, wie jetzt, habe ich noch nie gesehen! Und das mit zwei Tumoren im Kopf! Das muss mir mal einer nachmachen.«
Marvin grinste sarkastisch, wischte mit der Jacke das Nasse aus seinen Augen. Er war wütend, wütend vor Hilflosigkeit.
Seine Augen trafen Lisa, die einfach nur dastand, schweigend und betroffen. Karls Hand fest umschlungen, bibberte sie am ganzen Körper.
Herr König rief von weitem. Die Führung durch den Friedhofswald konnte zusammen mit dem Förster beginnen. Marvin fingerte wieder an der Bedienung des Rollstuhls. Er machte etwas falsch und drehte sich in die entgegengesetzte Richtung. Karl ließ Lisa los, um Marvin zu helfen. Aber Marvin schrie ihn an. Er hatte keine Lust mehr auf die Führung, weder auf den Wald noch auf Karls Begleitung. Er wollte weg von hier, zurück zum Auto, irgendwohin. Vielleicht stundenlang fahren und Landschaften beobachten oder irgendwie diesen Tag rückgängig machen.
»Erbschleicher! Und ich hatte Jens verdächtigt!«, fauchte er. Nein – so wollte er nicht aus dem Leben gehen. Das hatte er sich anders vorgestellt. Seinen Rollstuhl bewegte er ziellos vor und zurück.
»Aber Marvin! So lass dir doch helfen!«, rief Lisa besorgt.
Karl blieb stehen, wo er war. Herr König und der Förster blickten ihn verwirrt an.
»Lasst mich in Ruhe! Ich kann mir sehr gut selber helfen!«
Mit hektischen Handgriffen bewegte Marvin sein Gefährt zurück in Richtung Parkplatz.

Wieso er das Auto nicht vorher hatte kommen sehen, konnte er sich nicht erklären, während er im Rollstuhl mitten auf der Fahrbahn stand. Als er es entdeckte, wie es mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zugerast kam, war es längst zu spät zum Handeln. Natürlich versuchte er noch, sich mit dem Rollstuhl in Sicherheit zu bringen, aber wie sollte er das schaffen. Er ruderte hektisch mit den Armen, fuchtelte panisch an den verkehrten Knöpfen, um aus der Kollisionslinie zu gelangen und wusste doch, es war hoffnungslos. Hinter ihm schrie Lisa, dass Karl ihm helfen sollte.
Der Wagen kam so schnell näher, dass Marvin nicht einmal einen Meter hinter sich brachte. Er sah ihn auf sich zukommen, denn er fixierte ihn wie gebannt. Kreischende Bremsen, höllisch laut! Trotzdem raste das Ungetüm immer
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