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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Das Badewasser ruhte, seit er die Luft anhielt – das war alles. Nichts weiter!
Er fühlte keinen Schmerz und auch keine Erstickungsqual; lediglich der Schaum auf dem Wasser schaukelte nicht mehr über seinem Bauch hin und her.
In der Hitze des Bades spürte er, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sie vereinigten sich zu dünnen Rinnsalen und rannen ihm die Schläfen entlang. Das beruhigte ihn. Es machte ihn angenehm matt und gedankenarm. Reglos schwamm sein Körper, vom Wasser sanft getragen, während die Augen und Ohren das trübe Bewusstsein fütterten. So könnte er es sich wünschen – sein Ende. Es schien ganz einfach, so unbeschwerlich, bloß hinwegzudämmern.
Ungewollt setzte seine Atmung wieder ein. Er ließ es geschehen. Das Leben tut ja, was es will. Es geht auch einfach so weiter – ohne ihn. Sein gedachter letzter Atemzug blieb wieder einmal unbemerkt. Wann sie ihn wohl gefunden hätten? In zwanzig Minuten … in dreißig? Spätestens in einer Stunde, so mutmaßte er, hätten sie ihn entdecken müssen – in der Wanne liegend, untergetaucht, mit abstehenden, um den Kopf herumschwimmenden Haaren – das Gesicht weiß, die Augen starr, den Mund geöffnet unter Wasser, wie ein dahintreibendes Sirenenopfer. Oh … das Geschrei wollte er gerne hören!
Aber erst einmal hätten sie es nicht bemerkt, die beiden da unten im Wohnzimmer. Während er gestorben wäre, hätten sich Frau und Tochter über Fernsehfilme oder irgendetwas anderes Banales ausgetauscht, sich unbeschwert auf dem Sofa gerekelt, über dies und das gekichert.
Gestorben wäre er ganz allein.
Nicht zum ersten Mal probte er das Sterben, indem er einfach den Atem anhielt. Er wollte wissen, wie sich das anfühlt, wenn alle anderen weiteratmen; wissen, wie es weitergeht, nach dem Entweichen des letzten Sauerstoffes aus seinen Lungenflügeln. Es war jedes Mal mehr Luft gewesen, als erwartet. Einsam fühlte sich das an.
Er lag also in der Badewanne, und das allabendlich, wie ein Mädchen. Er, Marvin Abel, ein Mann im besten Alter, in heißem, sündhaft aufgeschäumtem Wasser – heute ein Rosenblütenbad. Aber nur hier konnte er sein Gedankensamsara noch so gelassen ertragen. Langsam rutschte er etwas tiefer. Die Beine ein wenig anzuziehen, das reichte schon, um seine schmalen Schultern im Wasser verschwinden zu lassen. Ja, etwas Krafttraining hätte da vielleicht helfen können. Aber wozu jetzt darüber nachdenken? Es spielte keine Rolle mehr. Oder doch?
Von unten drangen Lisas und Julias Stimmen durch die geschlossene Badezimmertür. Ihre Stimmen verwischten zu einem monotonen Brei, unterbrochen von einigen Höhen, in denen sie kicherten. Beneidenswert, diese Lebensleichtigkeit der beiden. Fast schon unverschämt! Niemals mehr würde er das mit ihnen teilen können. Nie mehr entspannt vor dem Fernseher sitzen oder sich unbeschwert auf dem Sofa ausstrecken. Selbst, wenn es vorerst gut ausgehen würde. Vorerst!
Eineinhalb Meter über ihm brummte die Leuchtstoffröhre, die er so eigenhändig wie umständlich hinter einer Wand von dunkelblauen Fliesen angebracht hatte, um die Badewanne indirekt zu beleuchten. Romantisch hatte es werden sollen. Der raffinierte Versuch von Verführung an einem sinnlichen Ort. Doch dazu war es nie gekommen. Leider! Vielmehr weit weg gerückt, angesichts der brutalen Wirklichkeit der letzten Wochen.
Was hatte sein Arzt noch zu ihm gesagt?
›Ihr Blutdruck gefällt mir nicht!‹
Hoher Blutdruck? Wäre das alles gewesen, hätte er in diesen Tagen vermutlich ständig an seine Blutdrucktabletten gedacht; immer besorgt, ob sie auch helfen. Nach der Kniearthrose das nächste ernst zu nehmende Zeichen seiner Vergänglichkeit. Wie lächerlich!
Was war schon ein hoher Blutdruck gegen das, was danach entdeckt wurde! Eine kurze Untersuchung im Krankenhaus – eigentlich nur erfolgt, um eine ernsthafte Erkrankung hinter seinen Beschwerden auszuschließen – stellte sein Leben auf den Kopf.
Wäre er doch niemals wegen dieser Kopfschmerzen zum Arzt gegangen! Er wüsste es bis heute nicht. Nichts in seinem Leben hätte sich bis jetzt verändert, besonders das „Zukunftspläneschmieden“ nicht. Er wollte sich doch um diese Stelle als Geschäftsführer in der neuen Tochtergesellschaft der Firma bewerben, und er hätte sie bekommen. Er – und nicht dieser arrogante Jungakademiker aus der anderen Abteilung, der ihm seit zwei Jahren schon im Nacken saß. Lisa wollte er zum vierzigsten Geburtstag im übernächsten Monat mit
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