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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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antwortete er. »Wenn ich etwas hasse, dann ist es diese Übelkeit. Schmerzen ließen sich noch ertragen – aber diese Übelkeit macht mich fertig.«
›Wohl wahr‹, dachte Marvin. ›Die Übelkeit ist das Schlimmste.‹
»Willst du mit mir über etwas sprechen?«, fragte er.
»Ja! Aber setz dich hier hin, sonst habe ich das Gefühl, dass auch du nur auf einen Sprung gekommen wärst, nur so, um deinem Gewissen zuliebe einen Pflichtbesuch gemacht zu haben.«
Der Kranke wies Marvin mit seiner von Einstichen blau und braun unterlaufenen Hand einen Platz auf der Bettkante zu, einen Platz, den nur Menschen mit einer ganz intimen Beziehung besetzen durften.
»Ich möchte mit dir über den Tod sprechen«, sagte der Mann im Bett.
»Aber hast du das nicht schon mit vielen besprochen?«, erwiderte Marvin.
»Nicht wirklich. Ich habe aus religiöser Sicht über den Tod gesprochen und ich habe über die technische Abwicklung vor und nach meinem Tod gesprochen. Aber ich habe mit niemandem über ›meinen Tod‹ gesprochen.«
Der Kranke machte eine längere nachdenkliche Pause. Er hielt Marvin die magere Hand hin, damit er sie ergreifen konnte. Sie fühlte sich kalt an.
»Ich habe Angst vor dem Tod!«
»Ich weiß«, sagte Marvin. »Wie kann ich dir helfen?«
»Sag mir, vor was genau ich Angst habe! Im Tod sind die Übelkeit und die Schmerzen vorbei, dennoch kann ich mich nicht danach sehnen. Was ist es also, was mir noch Angst macht?«
»Ich glaube, es ist der Verlust. Du verlierst alles, was du besitzt und je besessen hast, auch deine Erinnerungen.«
»Aber das weiß ich – es macht mir nichts aus. Ich brauche das alles nicht mehr. Trotzdem ist da noch etwas.«
»Du wirst wirklich alles verlieren – auch Lisa und dich selbst. Ist es das?«
Der bleiche Kranke hob seinen Kopf. Er starrte nach innen, Sekunden, vielleicht auch Minuten, dann wandte er seinen Blick wieder Marvin zu.
»Ich glaube, das ist es.«
»Ja – ich weiß«, sagte Marvin.
Ja, er wusste. Sich selbst zu verlieren war schwer. Er vermisste seine Zukunft, seine vielen noch nicht erfüllten Träume. Die Enkelkinder, die er noch nicht hatte. Reisen, die er noch nicht geplant hatte. Das alles wollte er doch noch erleben.
»Was soll ich dagegen tun?«
Der Kranke schaute ihn an, fragend zwar, aber eigentlich die Antwort schon kennend.
»Lass los!«
Der Mann im Bett nickte. Er blickte Marvin an und öffnete die Finger.
Nachdem der Kranke seine Hand losgelassen hatte, konnte Marvin die Vision seines Besuches bei sich selbst nicht mehr aufrecht erhalten und mit rasender Geschwindigkeit entfernte sich sein Blick von seinem eigenen Krankenbett. Er nahm nicht den Weg zurück über den Stationsgang, sondern stand vom Krankenbett auf und blieb einfach davor stehen, bis der Rausch seiner Vorstellung vorbei war.
Vorbei der Gedanke, zu laufen und zu stehen, vorbei das Gefühl, den Druck des Bodens unter seinen Füßen gespürt zu haben. Das war der mit Abstand wichtigste Besuch während seiner Krankengeschichte. Den wichtigsten Rat, den er erhalten hatte, hatte er sich selbst gegeben. Er wusste jetzt, dass er noch immer gierig auf das war, was ihm vermeintlich gut tat. Glücksgefühle, Annehmlichkeiten, Liebe, Lisa – was hätte Marvin dafür gegeben, noch einmal in einem Körper aufzuwachen, der frei war von Schmerz und Übelkeit.
Er musste auch das noch loslassen. Hätte er sich nur nicht früher so sehr an diese Gefühle geklammert. Hätte er nur früher gelernt, Leben nicht über Glücksgefühle zu definieren. Er selbst hatte ja definiert, was Glücksgefühle für ihn waren. Hätte er sie anders definiert, wäre ihm jetzt der Abschied von ihnen leichter gefallen.
Marvin versuchte sich vorzustellen, dass sie gar nicht wirklich angenehm gewesen, sondern ihm nur so vorgekommen waren. So ähnlich, wie der Geschmack einer sehr süßen Praline, den der eine köstlich fand und auf den ein anderer gut verzichten konnte.
Genau so wollte Marvin es mit der Abwesenheit von Nicht-Schmerz und Wohlergehen versuchen. Wäre er ein Perverser, würde er den Schmerz vielleicht sogar lieben. Es war also nur eine Sache der Einstellung. ›Schmerz und Übelkeit seid willkommen‹, dachte er.
Und der Schmerz kam! Doch Marvin fiel das Willkommenheißen schwer. Er kämpfte, und es kam ihm vor, je stärker er kämpfte, desto stärker wurde der Schmerz. Irgendwann ließ seine Kraft nach und er ließ den Schmerz gewinnen. In diesem Moment des Sieges aber ließ der Schmerz in seiner Heftigkeit nach.
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