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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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zwei Wochenend-Tickets nach Stockholm überraschen. Und auf diesem Drei-Tagestrip hätte er, wie in jedem Urlaub, entspannten Sex mit ihr gehabt. Mit der Auszahlung der Tantiemen wollte er sich am Jahresende endlich diesen sündigen Zweisitzer gönnen, von dem er bereits vier verschiedene Prospekte besaß. Eine solche Liste konnte er beliebig fortsetzen. Alles das hatte er geplant, ungeachtet der Möglichkeit, jemals ernsthaft zu erkranken. Gut, eine Krankheit im Alter – das konnte man sich ja vorstellen – wann auch immer ›alt‹ beginnen mochte. Aber nicht jetzt schon. Nicht mit fünfundvierzig – das fand er nicht alt. Als junger Mann von zwanzig Jahren danach befragt, hätte er fünfundvierzig wahrscheinlich als greisenhaft empfunden, aber nicht heute. ›Alt‹ wird man immer erst später. Und auch sterben wird man immer erst später.
Er stieg aus der Badewanne. Schrumpelig. Noch immer aufgeheizt genug, um in der Nacktheit nicht zu frieren, bewegte er sich in Richtung Waschbecken, ohne sich abzutrocknen. Kleine Wasserpfützen in Fußform legten eine Spur auf die Fliesen. Doch der schnelle Wechsel zwischen dem Liegen in dem heißen Wasser und der plötzlichen Bewegung bekam ihm nicht. Alles wurde auf einmal schwarz. Er versuchte halbwegs kontrolliert zu Boden zu gleiten, indem er sich am eben noch erreichten Waschbecken festhielt …
Als Marvin die Augen wieder aufschlug, fand er sich auf dem Badvorleger liegend. Rechts neben ihm die weiße Säule des Waschbeckens und links von ihm das Katzenklo. Er starrte hinein. Wahrscheinlich gab ihm der Geruch daraus das Bewusstsein zurück. Diese dämliche Katze seiner Frau, die immer dann ins Klo machte, wenn er badete, sollte also doch für etwas gut sein.
Was war geschehen? Ach ja, zu heiß gebadet, zu schnell aus der Wanne gestiegen und – ach ja, er hatte diesen Tumor im Kopf. Es war kein Traum.
Er setzte sich auf, blieb eine Weile am Boden sitzen, die Arme nach hinten abgestützt. Allmählich drangen auch die Geräusche der Umwelt wieder zu ihm durch. Alles unverändert. Nicht einmal das hatten Frau und Kind bemerkt.
Übelkeit breitete sich aus – vom Kopf her. Zum Kotzen! Das jetzt auch noch! Marvin glaubte plötzlich, sich noch nie so alleine gefühlt zu haben. Dabei war das erst der Anfang. Was sollte da noch auf ihn zukommen? Wenn es auch grammatikalisch nicht möglich war – gefühlsmäßig gab es für ihn eine Steigerung von ›allein‹.
Mühselig zog er sich am Waschbecken hoch. Der Spiegel stellte sein Gesicht bloß. Blass sah es aus und schmal. Elf Kilo hatte er abgenommen in den letzten Wochen. Langsam drehte er den Kopf nach beiden Seiten um und betrachtete dabei seine Gesichtshaut genau. Alt und fahl sah sie aus, wie ein schlappes Stück Fleisch über den Schädel gezogen. Es kam ihm nicht wie sein eigenes Gesicht vor, das ihn da anblickte, mehr wie das eines fremden alten Mannes, dessen Schicksal ihm in einem bewegenden Film vorgeführt wurde.
Er packte in das schwammige Wangenfleisch hinein, fest, um sich zu spüren. Trotzdem fühlte er mehr mit den Fingern, als mit der Haut seiner Wangen. Wo war sein ›Ich‹ geblieben? In einem fremden Körper? Oder besaß sein Körper ein fremdes ›Ich‹?
»Marvin?«
Lisa rief von unten hoch und holte ihn aus seinem Dämmerzustand zurück.
»Marvin?«
Er hörte seine Frau die Treppe hochkommen, denn ihre Stimme klang jetzt näher und ihre Füße lösten auch ohne Hausschuhe ein leises kurzes Knacken an einigen Stellen der Holztreppe aus. Hatte sie doch etwas von seinem Sturz bemerkt? Im Spiegel sah er dann, wie Lisa die Tür hinter ihm einen Spalt öffnete und hereinschaute.
»Weißt du eigentlich noch, in welcher Zeitung dieser Witz steht? Du weißt schon, dieser Gezeichnete.«
»Was?«
Mit beiden Händen auf das Waschbecken gestützt, drehte er sich um. Er sah sie an und versuchte angestrengt, aus seiner Gedankenwelt in die ihre zu wechseln.
»Na, dieser gezeichnete Witz mit den Vögeln, die alle in einer Ecke hocken, weil einer geniest hat … wegen der Vogelgrippe! Der ist doch so süß. Ich will ihn Julia zeigen.«
Lisa kam herein, während sie sprach, und stellte sich vor ihn hin. Sie musste hochschauen, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht über seinen nackten Körper auf den Fußboden, bis zur Badewanne und zurück.
»Du hast dir schon wieder nicht die Füße abgetrocknet!«
Es klang vorwurfsvoll und er fand, sie hatte Recht. Wie schnell konnte man mit nassen Füßen
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