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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beherrschen konnte. Schließlich schüttelte er den Kopf über sich selbst.
»Ist alles in Ordnung mit dir? Was soll das, du alter Narr? Müsstest du nicht mehr Ernst an den Tag legen in deiner Lage?«
Das wirkte endlich. Sein Lachen fror langsam ein und ein gewisses neutrales Gefühlserleben machte sich in ihm breit.
›Okay‹, dachte er‚ ›mache dir klar, wie du dich im Augenblick tatsächlich fühlst! Dir geht es doch im Moment nicht wirklich schlecht! Das bisschen Übelkeit kann man doch ertragen.‹
Marvin schloss für die nächsten Atemzüge die Augen, dann öffnete er sie wieder. Mit Bedacht nahm er seine Zahnbürste von der Ablage des Waschbeckens. Gewissenhaft drückte er die Zahncreme auf die Borsten und begann, die Zähne zu putzen – schön langsam von oben nach unten und umgekehrt. Wozu er sie immer noch dreimal täglich penibel reinigte, wusste er nicht. Für Karies blieb ihnen ja eigentlich keine Zeit mehr, wenn er der schlechten Prognose seines Neurologen für Glioblastome glauben durfte. Aber im Moment vertrieb der scharfe Pfefferminzgeschmack den letzten Rest der grässlichen Übelkeit aus seinem Mund.
Sorgfältig in sich hineingefühlt, verspürte Marvin im Augenblick kein körperliches Unbehagen, weder Schmerz, noch Übelkeit – nur ein wenig Schwäche weiterhin. Einzig und allein sein Bewusstsein schien ihm das Leben schwer zu machen, indem es ohne Unterlassung um das eine Thema ›Gehirntumor‹ kreiste.
›Im Kopf steckt die Angst‹, dachte Marvin, ›im Kopf steckt die Angst.‹

Für seinen ersten Chemo-Termin im Krankenhaus benötigte er neue Schlafanzüge und neue Unterhosen. Das jedenfalls meinte Lisa. Sein Hinweis, die wenigen Tage bis zum Krankenhausaufenthalt nicht mit unnötigen Einkäufen verschenken zu wollen, kümmerte sie nicht.
»So gehst du mir nicht ins Krankenhaus!«, war ihr schlichter Kommentar dazu und so verbrauchte er kostbare Zeit damit, zusammen mit Lisa im Einkaufszentrum Wäsche zu kaufen. Er erstand Schlafanzüge und Retroshorts, außerdem noch T-Shirts, Socken und Handtücher. Das Ganze kostete ein Vermögen. Marvin wusste gar nicht, wie teuer Unterwäsche sein konnte.
›Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie‹ stand auf dem Schild am Eingang zu einem mächtigen, aber alten Gebäude mit diversen Anbauten. Nie hätte er erwartet, hier Patient zu werden. Bis zum Tag seiner Diagnose hatte er nicht einmal von einer solchen Klinik in der Stadt gewusst. Sie hätte einen ausgezeichneten Ruf, so die Versicherung seines Neurologen.
Lisa setzte ihn vor dem Krankenhaus ab und fuhr dann zur Arbeit. In ihrem Job als Werbekauffrau machten die wöchentlichen Prospektarbeiten sie derzeit unentbehrlich. Aber sie wollte abends noch vorbeikommen, um ihn zu besuchen.
Marvin winkte ihr nach.
Es war viel zu früh, um jetzt schon zur Station zu gehen. Was nun? Herumstehen und warten? Vor dem Eingang des Hauses entdeckte er einen schmalen Fußweg, der zu einem Teich führte. Also folgte er mit seiner riesigen Reisetasche voller neuer Kleidung dem Pfad bis zum Ufer und ließ seinen Hintern auf einer kalten Parkbank nieder. Man hörte das Zirpen von Vögeln und das leise Plätschern winziger Wellen am Uferrand, sonst nichts. Keine Autos, keine Leute – nur Stille. Ihn störte das. Sie schien ihm unangemessen, diese Stille – zu idyllisch irgendwie. Ein paar Enten schwammen heran. Vermutlich hofften sie auf Brotkrumen. Er täuschte sie mit einigen Steinchen, die er vor seinen Füßen aufhob und quer über den Weg warf. Eilig und quakend sauste das Federvieh hinterher; jedes bemüht, den anderen ihres Völkchens die vermeintlichen Leckereien wegzuschnappen. Marvin beobachtete sie eher nebenbei. Plötzlich fiel ihm jedoch eine der Enten auf, weil sie anders aussah als ihre Artgenossen. Etwas erschreckend „Warzenartiges“ ragte an ihrem Hinterkopf hervor, eine Geschwulst, fast so groß wie der kleine Kopf selbst, jedoch federlos. Sofort empfand er Mitleid. Doch die Ente bewegte sich wie selbstverständlich zwischen den anderen, lief hinter den Steinchen her, wackelte zwischen ihnen herum; als sei es das Normalste der Welt, mit einem goldgelben nackten „Warzenei“ am Kopf durch das Leben zu marschieren.
Beneidenswertes Tier! Eine Ente mit einem Tumor im Kopf machte sich wohl kaum Gedanken um ihren Schädel. Jedenfalls nicht, solange sie keine Schmerzen verspürte. Für sie würde es keine Hoffnung in Form einer Behandlung geben, nur den
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