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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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im Bad stürzen! Vor einer Minute war es ihm passiert.
»Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Flecken das auf diesen dunklen Fliesen hinterlässt?«, hielt sie ihm vor.
»Welche Flecken es hinterlässt, wenn ich stürze?«
Irritiert sah er in Lisas zartes Gesicht. Sie versuchte trotz ihres mädchenhaften Aussehens einen strengen Ausdruck, indem sie die Haut zwischen ihren zusammengewachsenen dunklen Augenbrauen zu senkrechten Falten zog. Es gelang ihr nicht, aber das wusste sie nicht. Lisa hasste diese zusammenwachsenden Brauen und trimmte sie gelegentlich durch Auszupfen. Doch Marvin mochte sie. Er fand Lisa so natürlicher. Er mochte es nicht, wenn sie ihre Brauen in wahren Auszupforgien zu dünnen Linien stylte und dann wieder nachzog. Glücklicherweise tat sie sich das nur selten an, weil sie das Zupfen schmerzte.
»Ich meine diese Wasserflecken, Marvin! Täglich wische ich hinter dir her. Kannst du dir nicht vorstellen, dass mir das auf die Nerven geht?«
Ihr voller Mund verzog sich nach unten und sie seufzte extra laut, um ihren Ärger zu verdeutlichen.
Marvin warf einen Blick auf den Boden. Aha – die Wasserflecken.
»Ich wische gleich auf«, sagte er kleinlaut, wie überführt, und noch immer fasziniert von Lisas Gesicht. Wie oft hatte ihn der Alltag davon abgehalten, sie genau zu betrachten. Er wollte wieder in ihre grünen Augen sehen; ein wenig in der Hoffnung, sie könnte seinen Probetod im Nachhinein noch bemerken. Doch sie stand schon nicht mehr vor ihm, ging zur Tür heraus, mit wippendem, braun gelockten Pferdeschwanz, einen Hauch süßen Deoduft hinter sich lassend. Ihre kleinen Füße tapsten nach unten. Die Tür ließ sie etwas offen stehen und die eindringende kühle Luft bescherte seinem unbedeckten Körper eine leichte Gänsehaut.
Marvin drehte sich zurück zum Spiegel und sah einem inzwischen wieder leicht rosafarbigen, wenn auch verdutzten Gegenüber ins Gesicht. Lisa hatte anscheinend beschlossen ihr Leben so weiterzuleben wie bisher.
Er erinnerte sich an den Tag vor etwa vier Wochen, als ihm der Arzt mitgeteilt hatte, der Tumor wäre bösartig.
Marvin war sofort nach Hause gefahren. Zitternd am ganzen Körper konnte er sich nur mit Mühe auf die Autofahrt konzentrieren. Zu Hause angekommen und kaum noch auf den Beinen stehen könnend, suchte er nach Lisa. Sie war im Waschkeller. Zwischen einem Berg alter Wäsche und frischen nassen Handtüchern, die auf der Leine hingen, fielen sie sich in die Arme, um zu weinen. Es war bitter und Lisa konnte sich nicht mehr beruhigen. Marvin ertrug das nicht. Und so begann er, die ihm und ihr hingeworfene Diagnose etwas abzuschwächen. Er redete sie harmloser, weniger bedrohlich. Schließlich stellte er sie ganz infrage. Sicher sei es keine endgültige Diagnose, machte er ihr vor. Außerdem wäre die medizinische Forschung doch heute schon so weit fortgeschritten. Auch mit einer solchen Erkrankung konnte er noch hoffen. Wer weiß, hörte er sich sagen, vielleicht irrte man ja im Krankenhaus – schließlich spürte er nichts von diesem Tumor in seinem Kopf, das sei doch verwunderlich! Man hörte doch oft von solchen Fehldiagnosen. Auf jeden Fall aber könnten sie ihn ganz sicher retten.
Und während er all das gesagt hatte, hatte auch er ein bisschen zu hoffen gewagt.
Danach ging es Lisa besser. Seine vage Hoffnung, aus Verzweiflung dahingesagt, war für sie zur Gewissheit geworden. Was nicht sein durfte, ließ sie nicht zu, und sie vergoss keine weiteren Tränen mehr. Es konnte einfach nicht sein, dass Marvin nichts von so einer schweren Erkrankung bemerkte. Er konnte reden wie immer, sich normal bewegen, logisch denken, ›intellektuell schwafeln‹, wie sie es nannte. Nichts schien anders als zuvor. Und wenn alles wie immer war, dann konnte sie sich auch über Fußabdrücke auf den schönen dunkelblauen Fliesen aufregen. C’est la vie!
Marvin begann zu lachen, als er über all das nachdachte. Er lachte sarkastisch, gemein sich selbst gegenüber. Er lachte, obwohl der Gedanke an Lisa und die Wasserflecken ihn schier verzweifeln ließ. Was sollte er ihr sagen? Dass er sie hoffnungsvoll belogen hatte? Dass sie gefälligst weinen sollte?
Er lachte noch mehr, versuchte aber leise zu sein, damit niemand ihn hören konnte. Der Spiegel zeigte, wie sich dabei die Krähenfüße um seine Augen vertieften und sein ohnehin schon breiter Mund sich fratzenhaft in die Breite zog.
» C’est la vie – c’est la mort! «, flüsterte er zwischen den Lachpausen und
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