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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Schnarchen zu beweisen. Es ließ sich seither nicht mehr bestreiten. Peinlich, so ausgeliefert auszusehen, aber sie in ähnlicher Weise abzubilden war ihm nicht gelungen. Lisa sah im Schlaf immer wie ein Engel aus. Sie schnarchte nie, höchstens in verschnupftem Zustand und dann auch nur ganz leise – geradezu süß – überhaupt nicht peinlich. ›Frauen sind die feineren Wesen‹, dachte er, wie so oft.
Er nahm seine Handykamera und knipste ein Foto von seinem Bettnachbarn. Man wusste ja nicht, wozu das einmal gut sein könnte. Dann hielt er die Kamera vor sein eigenes Gesicht und schoss ein Bild von sich selbst – zur Erinnerung an sein Gesicht vor der Chemo und an seine angegraute, aber immerhin noch ziemlich dichte Haarpracht. Eine Tatsache, auf die er stolz war. Die Medikamente der Chemotherapie könnten ja zu Haarausfall führen, so hatte er gehört. Ekelhaft, der Gedanke an Haarbüschel, die sich mit den Fingern von der Kopfhaut abziehen ließen. Marvin hatte einiges über die Nebenwirkungen der Behandlung gelesen. Das meiste klang so unwirklich - so weit weg, nicht vorstellbar für ihn. Aber das mit dem Haarausfall, das konnte er sich vorstellen. Es schien ihm gruselig greifbar und so abschreckend sichtbar.
Eine andere, sehr junge Schwester kam herein. Klein, zierlich und so blass, wie Rothaarige nun einmal sind. Sie drückte auf einen ominösen Knopf an der Wand und führte Zettel und Kugelschreiber mit sich. Um ihren Hals hing ein Blutdruckmessgerät.
»Ich bin Schülerin Elke!«, erklärte sie und augenblicklich verfiel Marvin dem offenen und freundlichen Lächeln, welches sie für ihn erübrigte, ganz im Gegensatz zu den anderen Schwestern. Ihre rotblonden Locken trug sie bis etwas über Kinnlänge und offen. Ein nettes Mädchen, die Kleine! Von ihren Augen, die Marvin so hellblau wie unbekümmert anstrahlten, ließ er sich gerne herauslocken aus seiner düsteren haarlosen Zukunftsvision. Die schlanke Taille und wohlgeformte Hüfte unter ihrem weißen Kittel entging ihm nicht.
»Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«, fragte sie mit Blick auf die unausgepackte Reisetasche.
Marvin wehrte ab. Nein, nein, es ginge schon. Er erzählte ihr, während sie seinen Blutdruck maß, dass es ihm eigentlich ganz gut ginge. Wenn da nur nicht dieser zufällig festgestellte Tumor in seinem Kopf wäre, weshalb er jetzt eine Chemotherapie bräuchte und so weiter. Er redete viel. Mehr als er es sonst tat. Erzählte von seinem Blutdruck, wohl wissend, es interessierte eigentlich niemanden.
»Und jetzt haben Sie einen Blutdruck von 140 zu 80 – der ist nicht einmal zu hoch!«
Schülerin Elke lachte. Marvin lachte, und beide schmunzelten noch kurz über das Schnarchen des Bettnachbarn. Sie hoffte für ihn, er könnte wenigstens nachts schlafen bei dieser lautstarken Baumsägerei. Danach verschwand sie aus dem Zimmer. Zauberhaft lächelnd schwebte sie wahrscheinlich als helfender Engel dem nächsten Patienten zu.
Später brachte sie Marvin eine salzige Brühe und half ihm doch noch ein wenig mit der Tasche. Jetzt war er froh, dass er diese einwandfreie neue Wäsche mit sich führte.
Er fühlte sich gut aufgehoben.
Noch später kam eine Ärztin. Eine junge, herb aussehende Frau, schlank, fast schon hager. Etwas zu blond für seinen Geschmack und die Haare zu streng nach hinten frisiert. Sie befestigte eine Infusion an seinem linken Arm und kündigte ihm Übelkeit an. Danach blieb ihm nichts weiter zu tun, als ruhig in seinem Bett zu liegen. Verurteilt, zu lesen, vielleicht etwas fernzusehen oder die Tropfen zu beobachten, die langsam, einer nach dem anderen, in seinem Arm verschwanden. Er beobachtete sie lange, weil er von irgendwoher wusste, Luftblasen in den Adern seien gefährlich. Währenddessen wartete er auf die Übelkeit. Doch sie blieb aus.
Nach der ersten geleerten Infusionsflasche drückte Marvin auf den roten Knopf der Fernbedienung. Sofort meldete sich eine blechern und schwer verständliche weibliche Stimme aus einem Lautsprecher hinter seinem Bett, die nachfragte, was er wünsche. Marvin teilte mit, die Infusion wäre durch und erwartete sehnlichst eine Schwester, weil er zur Toilette musste. Die Stimme aus dem Lautsprecher weckte seinen Bettnachbarn. Der lag auf der Seite – jetzt, wo er nicht mehr schnarchte! – eine Hand gelangweilt unter seine Wange gestützt und musterte Marvin ungeniert.
»Zytostatikum?«, fragte er schließlich.
»Ja – Chemo!«, antwortete Marvin ebenso kurz.
»Sag’ ich doch –
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