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Fabula

Fabula

Titel: Fabula
Autoren: Christoph Marzi
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    erstes kapitel
    in dem wir von Mr. Darcy, einer Verwechslung, zwei Anrufen, warmem Regen und noch anderen Dingen, die wichtig sind, erfahren (aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge)
    Die meisten Lügen sind wahr und spinnen sich von ganz allein, kaum jemand kannte diese Wahrheit besser als Colin Darcy, Wenn man erst einmal der Melodie der Worte zu lauschen beginnt, dann pfeift man sie bald selbst. Und wenn Lügen wie kunstvolle Lieder sind, dann gehörte Helen Darcy, Colins Mutter, zu jenem seltenen Menschenschlag, der allzeit eine beschwingte Melodie auf den Lippen trägt.
    Dessen eingedenk hatte Colin Darcy seinen Heimatort und alles, was ihn mit Vergangenheit, Familie und den Liedern von einst verband, hinter sich gelassen. Nicht ein einziges Mal hatte er zurückgeschaut, nein, nicht wirklich. Seit sieben Jahren schon war er nicht mehr in Ravenscraig gewesen, dem Anwesen nahe Portpatrick, eine Ewigkeit und mindestens drei neue Leben lang.
    Danny, sein kleiner Bruder, lebte irgendwo jenseits des Atlantiks, rief nie an, schrieb weder Briefe noch Mails, nichts. Am Ende hatten sie alle das Haus ihrer Kindheit verlassen, weil Helen Darcy noch immer dort lebte. Die beiden Jungs hätten auch jeden anderen Ort auf der Welt verlassen, wenn Helen Darcy an jedem anderen Ort der Welt gelebt hätte, da war sich Colin Darcy sicher.
    Jetzt lebte Darcy, wie ihn seine wenigen Freunde nannten (oder Mr. Darcy, wie er von seinen Kollegen und Studenten gerufen wurde - was er, nebenbei bemerkt, überdies gar nicht mochte, weil es klang, als sei er ein alter Mann), in London.
    »Bist du sicher, dass du wirklich dorthin ziehen willst?« Eigentlich war es keine Frage gewesen. »Du wirst allein in London leben«, hatte Helen Darcy ihn gewarnt, als sie ihm einen Besuch in Cambridge abgestattet hatte. »Du wirst kaum mehr zu Hause sein.«
    »London wird mein Zuhause sein.« Colin hatte seine Mutter weder eingeladen noch um ihre Meinung gebeten. Sie war einfach vor der Tür seiner Studentenbude aufgetaucht, als er gerade dabei war, sein Hab und Gut in Umzugskisten zu verpacken.
    »Du hast noch nie in einer so großen Stadt gelebt.«
    »Ich habe die letzten Jahre in Cambridge gelebt.« Er hatte ihr einen Tee angeboten, was höflich gewesen war, nicht »Cambridge ist ein kleines Nest.«
    »Mutter!«
    »Du bist noch so jung, Colin.«
    Entnervt hatte er das Gespräch beendet: »Ab nächster Woche bin ich Assistenzprofessor an der London Business School. Ich bin alt genug.« Er hatte sich gefragt, warum seine Mutter überhaupt zu ihm gekommen war.
    Helen Darcy machte ein Gesicht, das bekümmert wirken sollte, es aber nicht tat. »Ich werde mich allein fühlen.«
    »Wirst du nicht.« Gedacht hatte er nur: und wenn schon!
    Dann hatten sie noch gemeinsam zu Mittag gegessen, und danach war Helen Darcy von ihrem Sohn zum Bahnhof gebracht worden. Er hatte sie nur deswegen bis zum Bahnsteig begleitet, weil er sichergehen wollte, dass sie auch wirklich verschwand.
    Einen Tag später war er nach London gezogen und hatte sein neues Leben begonnen.
    Er war gegangen, wie Danny vor ihm.
    Auch sein Bruder, der acht Jahre jünger und hundert Jahre lässiger war als Colin, war seit der Beerdigung nicht mehr in Ravenscraig gewesen. Das Anwesen musste immer mehr so wirken, als sei es einem Roman von Wilkie Collins entsprungen, so leer und verlassen, bewohnt nur von Helen Darcy und den beiden Dienstboten (ja, so bezeichnete sie die beiden Angestellten tatsächlich noch immer, obwohl die beiden wohl eher zu Helen Darcys Familie gehörten als ihre beiden Söhne).
    Damals, als Colin Darcy sich neu in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Cambridge eingeschrieben hatte, da war Danny bereits nach Prag gegangen. Ja, der Kleine hatte schon immer ein rastloses Gemüt sein Eigen nennen dürfen. Mit seiner Gitarre (dem wohl einzigen Gegenstand, den er aufrichtig und von ganzem Herzen liebte) war er zuerst einmal nach Paris entschwunden, wo er sich als Straßenmusikant in Montmartre und am Boulevard Saint Michel durchzuschlagen gedachte, und dann später in Prag gestrandet, wo es, zumindest laut Danny, die letzten Bohemiens und die geilsten Weiber Europas gab.
    Sie hatten hin und wieder telefoniert, spätabends: Colin am Schreibtisch, der übersät war mit Büchern und Magazinen, die ihn in die Welt der Ökonomischen Modelle einführten, Danny irgendwo in einem Club in Prag, wo Gitarrenrock im Hintergrund geschrammelt wurde, sodass man kaum verstehen konnte,
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