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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Tod. Aber sie würde wohl auch nicht darüber nachdenken.
Marvin jedoch dachte unentwegt daran, hegte Hoffnung und verwarf sie wieder. Natürlich – die Ärzte irrten nicht! Die schöne Tatsache, außer ein paar Kopfschmerzen bisher keine besonderen Beschwerden zu verspüren, konnte über die eindeutigen Aufnahmen der MRT und der Biopsien nicht hinwegtäuschen. Das Ding war da und musste weg. Blöd nur, dass es an einer Stelle saß, die eine Operation nicht zuließ. Ihm blieben nur Bestrahlung und diese furchtbare Chemotherapie.
Um Punkt acht Uhr fand Marvin sich auf dem Gang der achten Etage des Krankenhauses ein und meldete sich im Schwesternzimmer an. Freundlich war sie ja, die Frau an der Anmeldung, aber auch unbehaglich sachlich. Da trotz seiner vorherigen Ankündigung noch kein Bett für ihn zur Verfügung stand, musste er im Aufenthaltsraum warten.
Warten müssen – in einem kleinen Raum mit vergilbten Tapeten, möbliert mit angeschlagenem, verblichenen Buchenholz. Warten müssen – als wäre sein Tumor eine Alltäglichkeit, die warten konnte. Dabei konnte das Ding in jeder Sekunde wachsen.
Er blickte aus dem Fenster. Von hier aus konnte man über den Park des Krankenhauses hinweg auf die halbe Stadt schauen; so weit, bis die Halde der stillgelegten Zeche wie ein entfernter Berg die Sicht versperrte. Der Blick nach unten bot die Aussicht auf den Teich. Ein alter Mann fütterte inzwischen die hungrigen Enten. Zu gerne hätte er jetzt mit dem alten Mann getauscht … vielleicht sogar mit den Enten.
Eine junge Krankenschwester mit Handschuhen und einem Eimer voll schäumender Flüssigkeit eilte in das Zimmer gegenüber. Marvin hörte sie darin wirken und sah sie bald darauf wieder heraussputen. Als er schließlich hinein durfte – es war das Zimmer mit der Nummer 832 – roch der Raum nach Desinfektionsmittel. Sein Bett stand nahe der Tür. Daneben befand sich der Zugang zu einem überraschend großen Waschraum mit Dusche und Toilette. Ganz nett.
Leider war er nicht alleine in diesem Zimmer untergebracht, trotz seiner privaten Versicherung. Ärgerlich, wie er fand. Im Bett am Fenster lag ein Mann in etwa seinem Alter und schnarchte. Daneben stand ein Gehwagen.
Eine weitere Schwester – sie stellte sich als Schwester Sabine vor – wies Marvin in die Handhabung eines Gerätes ein, mit dem man sowohl telefonieren als auch das Bett vollelektronisch verstellen und den Fernseher bedienen konnte. Gleichzeitig diente es als Notrufgerät – ein Druck auf den roten Knopf und die Schwestern kämen sofort, um nach ihm zu sehen. Wenn irgendetwas sei, bräuchte er nur auf diesen roten Knopf zu drücken.
»Der rechte Schrank ist für Sie, der mit dem blauen Punkt an der Tür. Im Waschraum sind zwei Haken, ebenfalls mit blauen Punkten. Das sind Ihre! Da können Sie Ihren Waschlappen und Ihr Handtuch aufhängen. Und die rechte Tür des Spiegelschrankes gehört Ihnen.«
Schwester Sabine vergaß, auf den blauen Punkt hinzuweisen, der sich auf dem Spiegelschrank befand.
›Blaue Punkte‹ – Marvin fühlte sich belustigt an seine Kindergartenzeit erinnert. Hektisch drückte ihm die zwar noch junge, aber schon irgendwie verbraucht wirkende Frau mit dem aschblonden Zopf noch ein paar Pappkarten in die Hand, auf denen er seine Essenswünsche ankreuzen sollte, und dann verschwand sie. Sie hatte es eilig.
Allein mit seinem neuen winzigen Privatbereich ›Bett mit Nachtschrank‹, einem schnarchenden Fremden und einer überdimensionierten Reisetasche, dessen Inhalt er nie und nimmer in diesen schmalen Spind bekommen würde, blieb Marvin zunächst auf seinem Bett sitzen. Für die ersten Tage des ersten Chemo-Zyklus sollte er hier bleiben, damit die Nebenwirkungen besser überwacht werden konnten. Danach würde er sich zu Hause weiter plagen dürfen. Gemütlich war etwas anderes!
Marvin betrachtete seinen Mitpatienten mit dem schütteren Haar. Ein Mittvierziger schätzte er. Blass zwar, aber er schien noch zu beleibt, um schwer krank zu sein. Er schlief und schnarchte mit zurückgefallenem Kinn, und der weit geöffnete Mund bot sicher Platz genug, um eine Magenspiegelung ohne Mundstück zu ermöglichen. Lippen und Nasenflügel bebten bei jedem gequälten Atemversuch. Natürlich lag der Mann auf dem Rücken, eine für die Schnarcherei bekanntermaßen bevorzugte Position.
Marvin fand es nicht lustig, eher beschämend, denn er wusste genau, dass er ebenso aussah im Schlaf. Lisa hatte ihn einst hinterhältig gefilmt, um ihm sein
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