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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage
Autoren: Almut Irmscher
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Ich heiße Sibylle und bin eine ziemlich blöde Ziege. Sibylle – das ist eine Wahrsagerin, eine Seherin aus der antiken Mythologie. Einen unpassenderen Namen hätten meine Eltern mir nicht geben können. Denn hätte ich auch nur den Anflug einer leisen Idee von dem gehabt, was mir passieren könnte, dann hätte mein Leben jetzt ganz anders aussehen müssen.
    Ich habe nämlich gerade den Vater meines Kindes umgebracht. Obwohl – vielleicht ist er auch gar nicht der Vater. Es könnte genauso gut Herbert gewesen sein. Dabei habe ich mit dem nur ein einziges Mal… Kann man von einem einzigen Mal schwanger werden? Noch dazu, wenn man es nur aus reiner Boshaftigkeit tut? Und wenn der Typ Herbert heißt? Ich meine, mal im Ernst, wer heißt denn heutzutage schon noch Herbert, wenn er unter fünfzig ist? Dieser Name ist doch eine Beleidigung für alle Sinne!
    Also kann Herbert nicht der Vater sein. Das heißt unweigerlich, dass Salvatore der Vater von Bimbi ist. Bimbi, so heißt mein Baby, aber Bimbi ist noch gar nicht geboren. Wenn Bimbi geboren wird, dann ist Bimbi schon ein Waisenkind, ein vaterloser Knabe. Oder ein vaterloses Mädchen, das weiß ich ja nicht. Und ich bin das schuld, ich blöde Ziege! Wegen mir wird Bimbi im Knast auf die Welt kommen, und das Erste, was er oder sie sehen wird, sind die Gitter vor dem Fenster. Was habe ich nur angerichtet?
    Dabei kann ich doch eigentlich überhaupt nichts dazu. Dieser Salvatore ist einfach ein blöder, italienischer Gockel. Muss er sich so produzieren? Seine ständige Angeberei ging mir fürchterlich auf den Senkel. Da ist mir einfach der Kragen geplatzt und es ist mit mir durchgegangen. Ich finde das durchaus verständlich. Das hätte jedem passieren können.
    Er hat sich auf diese Mauer gesetzt und Süßholz geraspelt. Von wegen, was für eine wundervolle, leuchtende Blume ich doch wäre und wie sehr er mich verehre. Dieses typisch italienische Gelaber, Worte, die mit ihrer zuckersüßen Klebrigkeit im Ohr hängen bleiben und sich dann wie Honig um die Hirnwindungen legen, zäher, harziger, schmieriger Kleister. Und da pappen sie dann und wollen nicht mehr fortgehen, denn irgendwo, tief verborgen im hintersten Winkel der realistischsten Frau, ist ein kleines, leeres Fach mit der Aufschrift „Romantik“, und das sehnt sich danach, gefüllt zu werden. Dabei weiß der Verstand nur zu gut, dass der Typ einfach eine Show abzieht, hingebungsvolle Worte, die dem Italiener im Blut liegen. Diese Leute üben vermutlich schon als Babys den herzzerreißenden, samtigen Augenaufschlag, und die Balzpoesie haben sie mit der Muttermilch aufgesogen, sie ist ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht mehr anders können. Säuselnde Liebesworte, gut und schön, aber auch dabei geht es wie mit den meisten Dingen im Leben: Wenn man zu viel davon bekommt, dann wird es einem schlecht. Ich liebe Himbeertorte. Himbeertorte ist etwas Herrliches. Aber wenn ich tagaus, tagein nur Himbeertorte vorgesetzt bekäme, dann würde sie mir schnell zum Halse heraushängen. Und genauso ging es mir mit Salvatores salbungsvollen Worten.
    Wenn es nur das gewesen wäre, dann hätte ich es vielleicht noch ertragen. Aber Salvatore ist nicht nur ein Meister der kitschigen Sentimentalität. Er wäre kein Italiener, wenn er nicht auch ein Gockel wäre. Ein affiger Angeber, der keine Gelegenheit auslässt, um seine Coolness zu demonstrieren. Diese ständige Sonnenbrille! Salvatore ist so cool, der lässt seine Sonnenbrille sogar nachts im Tunnel auf. Er ist so lässig, dass James Dean ein steifer Stockfisch gegen ihn gewesen wäre. Wenn er sich mit seinem Cinquecento-Cabrio nonchalant in die engen Kurven der Küstenstraße legt, gehen meine Nerven auf Grundeis. Ich meine, seitlich neben uns geht es hunderte von Metern in die Tiefe, und die Straße ist so schmal, dass gefühlt zwischen zwei Autos kein Blatt Papier mehr passt, was sollen wir aber tun, wenn uns plötzlich ein Bus entgegenkommt? Salvatore lacht immer nur über meine Sorgen und legt sich salopp in die nächste Kurve. Das ist doch nicht zu fassen!
    Und jetzt saß er auf dieser Mauer und sülzte diese unerträglich schnulzigen Worte vor sich hin. Musste er sich ausgerechnet dorthin setzen? Er weiß doch ganz genau, dass ich Höhenangst habe. Hinter der Mauer war die Steilküste, ich habe wirklich keine Ahnung, wie tief es da hinuntergeht, und ich will es auch gar nicht wissen. Dann wollte er, dass ich mich zu ihm setze, er wollte mich
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