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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage
Autoren: Almut Irmscher
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ein Kropf. Eine Null. Alle waren toll, nur ich, ich war nichts.
    Meine Mitschülerinnen ließen keine Gelegenheit aus, mich das spüren zu lassen. Ich fand nie eine Freundin und fühlte mich schrecklich einsam. Es gab Zeiten, da hätte ich alles darum gegeben, wenn sie mich nur in einer ihrer Cliquen aufnehmen würden. Warum sind Menschen so ekelhaft? So vollkommen ohne jedes Mitgefühl? Sie hätten doch verdammt noch mal sehen müssen, was sie mir antaten?
    Aber meine Qual ging noch weiter. Josefine, eine hübsche, selbstbewusste, großgewachsene Blondine und der Star der Klasse, sprach mich eines Tages im Sommer 1998 an und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr und ihrer Mädelsgruppe den Abend im Park zu verbringen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Endlich nicht mehr allein! Euphorie und Freudenrausch ließen mich vor der Tatsache erblinden, dass die Reihe der Gören, die Josefine huldigten und den Reigen ihrer Jüngerinnen bildeten, aus ziemlich oberflächlichen Zicken bestand. Und Josefine war unter ihnen die Oberzicke.
    Wie oft hatten sie mich auf dem Schulhof bloßgestellt, indem sie mich scheinbar harmlos fragten, was denn nur los mit mir sei, warum ich keine Freundin habe, warum ich nicht mal zum Friseur gehen würde, ob ich keine andere Jacke besäße und dergleichen. Heutzutage würde man das als Mobbing bezeichnen, aber zu dieser Zeit war der Begriff noch nicht in Mode. Sticheleien unter Mitschülern waren als ganz normale, alltägliche jugendliche Flegeleien hinzunehmen.
    Damals waren wir um die vierzehn, manche Mädchen waren schon weit in ihrer Pubertät fortgeschritten und traten dementsprechend als biestige kleine Lolitas auf. Andere, so wie ich, waren etwas hintan in ihrer Entwicklung, irgendwo feststeckend zwischen Kind und Frau, nicht Fisch, nicht Fleisch. Während andere topmodisch in den knallbunten Farben der Neunziger, aufreizend geschminkt und mit hochaktuellen, bizarren Gelfrisuren wie coole Abziehbilder aus angesagten Modemagazinen auftraten, wusste ich noch nicht so recht, wohin ich eigentlich wollte und überließ die Auswahl meiner Klamotten ohne weiter darüber nachzudenken meiner Mutter. Entsprechend bieder war mein Erscheinungsbild: gestärkte Blusen und Faltenröcke in dunklen Farben, Schnürschuhe mit dicker Gummisohle, gerippte Wollstrumpfhosen im Winter oder weiße Söckchen im Sommer. Ich dachte mir einfach nichts dabei.
    *
    Ich war eben naiv. Deshalb dachte ich mir genauso wenig bei Josefines Einladung. Ich freute mich einfach nur. Sie hatten endlich mal nachgedacht und tief versteckt im hintersten Winkel ihres Herzens die Empathie entdeckt. Alles würde gut!
    Als ich abends im Park ankam, waren die anderen schon da. Es waren sieben kleine Luder. Sie bildeten einen Kreis um mich und begannen, über mein Aussehen herzuziehen. Alles zerrissen sie mit Worten, kein gutes Haar ließen sie an mir. Meine Haare sähen aus wie Spargelschalen, meine Nase sei zu klein und erinnere an ein Löwenkopfäffchen, dafür sei mein Hals zu lang und zu dünn, meine Wangenknochen zu hoch, wie bei einer knöchernen alten Jungfer, und – igitt – ich hätte ja Schlupflider! Mein blauer Rock sei wohl aus der Mottenkiste meiner Großmutter, meine Bluse vom Wohltätigkeitsbazar aus dem vorletzten Jahr. Und so weiter, und so weiter.
    Ich versuchte verzweifelt, zu entkommen, aber sie stießen mich immer wieder in die Mitte des Kreises zurück. Als ich meine Versuche verstärkte, fielen sie über mich her. Ein paar von ihnen hielten mich fest, zwei oder drei andere boxten mich gnadenlos ein paar Mal in den Bauch. Sie zwangen mich, mich vor Josefine hinzuknien und sie dafür um Verzeihung zu bitten, dass ich ihre Augen mit meiner Anwesenheit beleidigte. Aus purer Verzweiflung gehorchte ich ihnen, mir war schlecht von den Magenhieben und ich fürchtete mich wie ein Kalb im Schlachthaus. Als sie endlich von mir abließen, befahlen sie mir, ihnen einige Kosmetikprodukte im Drogeriemarkt zu klauen. Sie seien unter diesen Umständen bereit, mich in ihrer Clique zu akzeptieren, sollte ich jedoch Widerstand leisten, wüssten sie schon, was sie mit mir machen würden. Irgendwann würden sich mich finden, allein und ungeschützt.
    *
    Was sollte ich tun? Gab es eine andere Wahl? Beim ersten Mal hatte ich fürchterliche Angst. Ich ließ eine Mascara in meiner Hand verschwinden und steckte diese ein paar Regalreihen weiter möglichst unauffällig in meine Jackentasche. Hätte mich jemand dabei beobachtet, er
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