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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage
Autoren: Almut Irmscher
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sie aus dem Effeff. Sie rechnete wie ein Roboter, mit einem kleinen Bleistift, flink wie ein Wiesel, geradezu unheimlich. Ich habe nie einen besonderen Zugang zur Mathematik gefunden, umso mehr erschien mir meine Mutter wie ein Alien. Sie lebte in ihren Zahlen, sie war ein fremdes Wesen. Irgendwann ganz kurz vor Ende des Krieges geboren, schien sie mir zudem wie eine Kreatur aus einer andern Zeit. Eine Zeit, über die sie nie gesprochen hat. Na gut, ich habe sie auch nie gefragt. Wir blieben Fremde. Sie mochte mich nie. Ich mochte sie auch nicht.
    *
    Sie hat mich viel geschlagen. Wann immer sie vermeinte, die Erziehungsgewalt drohe ihr zu entgleiten, schlug sie zu. Und nicht nur das, sie ritualisierte ihre Züchtigungen durch die Zuhilfenahme eines hölzernen Kochlöffels. Mehrfach hat sie diese Dinger auf mir zertrümmert, wie es mir schien, aus nichtigem Anlass. Mein kindlicher Verstand vermochte nicht nachzuvollziehen, warum mir mein Vergehen diese erbarmungslose Strafe eintrug. Aber die Züchtigung musste gerechtfertigt sein, sonst hätte meine Mutter, diese in göttlichen Sphären über mir stehende Inkarnation der Weisheit und Gerechtigkeit, nicht solche brutalen Mittel gewählt. Sie war doch unfehlbar, die Schuld trug allein ich. Ich, das missratene Gewürm.
    Und mein Vater? Mein Vater schlug mich nie. Er erzog mich mit Blicken. Aber was soll ich sagen? Diese Blicke saßen. Vielleicht waren sie sogar schlimmer als die körperlichen Bestrafungen meiner Mutter. Er blieb stumm, handlungslos und sah mich nur an. In diesen Blicken lag mehr, als alle Worte, alle Schläge hätten vermitteln können. Ich war der Nagel in seinem Sarg.
    Mein Vater war bis zu seinem Ruhestand Gerichtsvollzieher. Das sagt es doch eigentlich schon, oder? Wie um alles in der Welt kann man so einen herzlosen Beruf ausüben? Irgendwelche verzweifelten Kreaturen überfallen und ihnen schreckliche Dinge aufzwingen, Dinge, die sie nie gewollt haben. Eine Vergewaltigung von Amts wegen. Tagaus, tagein. Mein Vater, der Vergewaltiger!
    Mein Vater war schon fünfzig, als ich geboren wurde. Ein veritables Alter für einen Großvater, eine Katastrophe für einen Vater. Ich war für ihn immer nur eine Last, eine Filzlaus in seinem geordneten Altmännerdasein, eine Plage, eine Qual, die ihn beharrlich an die schönen Dinge, die er im Leben verpasst hatte, erinnerte. Statt frank und frei in der Eckkneipe mit den anderen alten Herren Skat zu kloppen, schob er resignierend den Kinderwagen, ertrug die Lasten des Kindergartens, der Schule, die Plage der Pubertät in einem Alter, in dem andere längst ihre Bildungsbürgerreisen für fortgeschrittene Jahrgänge buchten und sich unter Gesinnungsgenossen mit dem schon Erreichten brüsteten.
    Mein Vater ist ein egozentrischer Kotzbrocken. Ich meine, er war ein egozentrischer Kotzbrocken. Vor vier Jahren ist er gestorben. Das hilft mir auch nicht weiter, denn meine Eltern hatten mich beizeiten einen Pflichtteilsverzicht unterschreiben lassen. Wenn einer von ihnen stürbe, dann sollte ich keinerlei Anspruch auf ein Erbe haben, so lange nicht, bis der zweite auch dahingerafft würde. Ich fand schon, dass das ein ziemlich starkes Stück war. Aber ihr Verhalten packte mich bei meinem Stolz. Sie unterstellten mir doch nichts anderes, als dass ich geldgeil sei. Geld? Was interessiert mich das. Also habe ich mit würdevoll erhobenem Haupt unterschrieben. Im Grunde ein blöder Fehler! Die Kohle hätte ich doch wirklich gut gebrauchen können. Von meiner Mutter ist nämlich keinerlei Großzügigkeit zu erwarten. Aber wenn man jung ist, denkt man viel zu wenig nach.
    *
    Weil ich von meinen Eltern nichts wollte – und sie hätten mir vermutlich auch nichts gegeben – musste ich mir einen Job suchen. Ich hätte ja eine Ausbildung machen können. Aber zu was? Frisöse? Wenn ich schon an das dumme Geschwätz im Frisörsalon denke, wird es mir übel. Arzthelferin? Ja, wer bin ich denn? Ich werde doch keinen arroganten Halbgott in Weiß bedienen! Kellnerin? Es war mir unvorstellbar, wie man es schafft, die ganzen Teller zu balancieren, mir wäre ständig alles hinuntergefallen! Kassiererin im Supermarkt? Wie unwürdig. Schließlich habe ich ja Abitur!
    Also bewarb ich mich als Animateurin. Dazu muss man nämlich nichts gelernt haben, man muss nur unter ein paar hirnlosen Deppen gute Laune verbreiten. Und das kann ich. Fröhlichkeit heucheln, kein Problem. Mit ein paar bleichen, bierbäuchigen Touristen dämliche
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