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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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»Es gibt auch eine Begräbnisstätte in einem Wald, etwa siebzig Kilometer von hier. Wunderschön! Dort kann man sich zu den Wurzeln eines Baumes beerdigen lassen, allerdings nur verbrannt, in einer biologisch abbaubaren Urne. Einen solchen Baum kann man sich sogar vorher selbst aussuchen.«
Marvin war plötzlich wieder hellwach. Von solchen Wäldern hatte er schon gehört. Das war es doch! Warum sollte sein Leib nicht in die Wurzeln eines Baumes eingehen, den er sich zu Lebzeiten selbst ausgesucht hatte?
»Herr König!«, sagte er. »Sie sind genial! Ist so ein Baum erschwinglich?«
König lachte. Er schwang seinen dicken Bauch in Richtung Aktenkoffer, nahm einen Block und machte sich sofort Notizen.
»Erschwinglicher als mancher Sarg! Ich arrangiere das für Sie! Wie sieht es aus? Können Sie irgendwie aus diesem Bett herausbewegt werden, oder muss ich den Wald zu Ihnen bringen?«
»Den Wald zu mir bringen?«
»Ja, per Computer, zum Beispiel! Ich könnte dorthin fahren, einen Baum für Sie aussuchen und Ihnen dann Fotos von dem Baum und seiner Umgebung mitbringen.«
Doch Marvin war plötzlich von dem Gedanken gebannt, noch einmal die Luft eines Waldes zu riechen. Bei mildem Wetter in einem Wald stehen, feuchtsatte Luft atmen, Vögel zwitschern hören, das Knacken von Zweigen vernehmen. Durch die Blätter der Bäume flackerndes Sonnenlicht in seine Augen blenden lassen – das wäre ein Ort, an dem er noch einmal sein wollte. Auf von Herbstlaub und satter Erde weichem Waldboden wollte er laufen und einen Ort suchen, an dem er begraben sein wollte.
»Ich suche mir meinen Baum selbst aus!« Marvin war sich ganz sicher. »Wann und wie sage ich Ihnen später.«
»Und ich werde herausfinden, wann eine Führung durch den Wald möglich ist.« Herr König nahm seine schwarzen Unterlagen, stand auf und hielt Marvin die Hand hin. »Wir sprechen uns dann!«
Er drückte zu und fegte so elanvoll aus dem Raum, wie er gekommen war.

Ab da an kreisten Marvins Gedanken nur noch um den Wald und seinen Baum. Er musste raus aus diesem Bett. Vor allem musste er – auf Hilfe leider angewiesen – seine Umwelt von diesem unumgänglichen Ausflug in den Wald überzeugen.
Lisa zeigte sich natürlich skeptisch. Sie verspürte keine Lust, mit ihm, einem Rollstuhl und einem sonderbaren Bestatter durch einen vom Regen vermatschten Wald herumzulaufen. Von einer Begräbnisstätte vor seinem Tod wollte sie absolut nichts wissen. Sie fand es unmöglich. Die Ärzte gaben ihr Recht.
»Im Moment unmöglich!«, urteilte seine Ärztin unmissverständlich.
»Was soll mir passieren? Haben Sie Angst, ich könnte tot umfallen?«
Die Ironie seiner Frage entlockte ihr tatsächlich den Hauch eines Schmunzelns.
»Natürlich ist es Ihre Entscheidung, aber empfehlen kann ich es nicht!«, beharrte sie.
»Warum so vorsichtig? Sie könnten mich doch genauso gut für den Rest meines Lebens in ein Hospiz schicken.«
Er sah, wie sich das Schmunzeln der jungen Ärztin in ein trauriges Lächeln wandelte. Es machte sie für einen Augenblick menschlicher. So perfekt sie ihre Funktion als Ärztin auch ausübte, so emotionslos fühlte er sich stets von ihr behandelt, als sei er ein Gegenstand. Da war ihm sogar die ungehaltene Art von Schwester Sabine lieber. Es mochte ja sein, dass sie sich als Ärztin Patienten gegenüber vor allzu viel Gefühl hüten sollte. Vielleicht schützte sie ihre offenbare Kälte vor einer Flut von Leid, die bei ihrer täglichen Arbeit auf sie zukam. Dennoch, die Nüchternheit, mit der sie ihn behandelte, strafte ihn wie Desinteresse. Erst heute, nach vielen Wochen, hatte sie ihm dieses eine kleine verständnisvolle Schmunzeln geschenkt. Vielleicht machte gerade das eine grandiose Ärztin aus – nicht die Behandlung allein, sondern auch ihr Mitgefühl.
»Sie sind noch nicht austherapiert, Herr Abel. Solange die Therapie, sei es auch noch so unmerklich, anspricht, sind Sie noch kein hoffnungsloser Fall.«
»Solange die Therapie anspricht? Das klingt, als würden Sie mich abschreiben, sobald der Tumor nicht so reagiert, wie vorgeschrieben.«
Sie lächelte nicht mehr, sondern setzte wieder die Maske eines freundlichen, aber völlig unbeteiligten Menschen auf.
»Hören Sie, man macht alles, was in Ihrem Fall als Behandlung anerkannt wird. Reagiert der Tumor nicht darauf, kann Ihnen auch nicht geholfen werden. Erst dann – und nur dann – wären Sie austherapiert.«
Die Rationalität, mit der sie es sagte, ließ ihn schaudern. Vorbei der kurze
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