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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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nächsten Organisation. Richtig klar wurde mir das Dilemma, als ich mit einer Gruppe von Jugendlichen konfrontiert war, die mich Dinge fragten, denen ich mit meinen Standardantworten nicht mehr entgegnen konnte.«
»Was waren das für Fragen?«
Marvin wollte wissen, ob das Fragen waren, die auch ihm auf der Zunge brannten. Karl saß auf seinem Stuhl und schaute eine Weile zu Boden. Als er wieder hochsah, grinste er spöttisch.
»Es waren eigentlich die üblichen Fragen: ›Warum hilft Gott den Armen nicht? Warum gibt es Krieg? Warum müssen Menschen leiden?‹ Und so weiter! Ich stand da und lächelte, sagte, Gott ließe den Menschen die Freiheit zu leben, das Leben sei eine Prüfung und irgendwann müsse jeder von uns vor Gott stehen und Rechenschaft ablegen. Die üblichen Antworten also. Standardantworten. Ich spielte den jungen Leuten gegenüber den Selbstsicheren, erzählte davon, dass man eben auch Glauben und Vertrauen müsse. Und während ich es sagte – wenig überzeugend übrigens – wusste ich, dass mir die Antworten selbst nicht mehr genügten. Ich hatte angefangen zu hinterfragen. Ein gläubiger Mensch hinterfragt nicht – er glaubt und vertraut. Ich meine, warum ist es denn so, dass Gott Armut und Ungerechtigkeit zulässt? Warum benutzt er seine Macht nicht, um seine geliebten Menschen aus ihren Qualen zu befreien? Warum verlockt er dich mit Geld und Sünde? Wozu diese Prüfungen? Keine gute Mutter lässt ihr Kind über die Straße laufen, nur damit es seine Freiheit dazu benutzen kann, sich richtig zu entscheiden. Und wenn wir nach seinem Ebenbild geschaffen sind, warum sind wir Menschen dann so schrecklich brutal? Ist Gott ein grausamer Gott? Ich glaube einfach selbst nicht mehr an das, was ich predige!«
Marvin war baff.
»Karl«, fragte er. »Wem hast du das bisher erzählt?«
Karl sah ihn entsetzt an. »Bist du verrückt – natürlich niemandem! Ich bin Pfarrer! Was glaubst du, was mir passiert, wenn davon irgendjemand erfährt? Ich bin erledigt, wenn das öffentlich wird.«
»Und warum erzählst du es mir?«
Einen Augenblick schien Karl selbst darüber nachzudenken. »Weil ich dir vertraue, Marvin! Ich bin mir sicher, dass du es niemandem weitererzählen wirst.«
Und plötzlich war da etwas in Karls Gesichtsausdruck und Stimme, das den Hauch von Misstrauen in sich trug.
»Ich kann dir doch vertrauen?«, fügte er leise hinzu.
»Meinst du, ich werde es niemandem weitererzählen, weil ich zwar mit vielen Leuten spreche, aber vertrauenswürdig bin oder meinst du, ich werde es niemandem weitererzählen, weil ich sowieso bald sterbe?«
Marvin staunte fast selbst über seine Direktheit. Doch er sah das Ganze plötzlich sehr sachlich. Karl handelte nicht anders, als Marvins Kollege Bernd, als Jens oder Julia. Sie taten das Gleiche – sie erzählten Marvin Geheimnisse, die man niemals einem im Leben stehenden Menschen anvertrauen würde. Sie erzählten ihm Geschichten und Gedanken, die man einzig und allein nur jemandem erzählen würde, von dem man ganz sicher war, er schweige wie ein Grab. Sein Krankenbett als Grab. Sein Namensschild am Bett, ein Grabstein. Inzwischen war Marvin zwar klar, dass niemand mehr, einschließlich ihm selbst, damit rechnete, dass er die nächsten Wochen überstehen würde. Aber dass man ihn noch zu Lebzeiten behandeln würde, als wäre er bereits tot, verletzte ihn. Jeder tat es – auch die Ärzte, die jedes Mal, wenn sie mit ihm sprachen, ihren Tonfall sofort ins Ernste fallen ließen, ihren Gesichtsausdruck in einen todernsten änderten. Zählte er denn nicht mehr zur lebendigen Gesellschaft? Er fühlte sich wie eine Art Schatzkiste, in die man seine tiefsten Geheimnisse ablud und auf einen weisen Ratschlag hoffte, bevor sie sich endgültig verschloss. Würde man sie öffnen, gliche der Inhalt der Kiste der Pandora.
»Ich wollte dich nicht verletzen, Marvin, wirklich nicht. Ich habe nicht nachgedacht, bevor ich es dir erzählt habe. Vergiss es wieder!« Plötzlich rückte Karl ihm dicht ans Ohr und flüsterte. »Ich habe oft zu Gott gesprochen, Marvin, doch er hat mir nie geantwortet, niemals.« Er ließ seine Worte eine Weile wirken, dann fuhr er fort: »Hast du je etwas Schlimmes getan? Ich meine, etwas wirklich Schlimmes?«
Marvin gruselte sich vor Karls Flüstern. Es klang fast so, als wollte er etwas Teuflisches verkünden.
Er überlegte. »Wahrscheinlich nicht.« Die Gehässigkeit seinen Gästen gegenüber zählte er nicht dazu, auch nicht kleinere Gemeinheiten

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