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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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es nicht, konnte es sich aber vorstellen, gerade mit Blick auf den korpulenten Leib des Bestatters.
»Und das auch im wahrsten Sinne des Wortes«, fuhr dieser fort. »Die Menschen in den reichen Ländern werden immer schwerer. Sehen Sie mich an! Wir hatten schon Verstorbene, die über zweihundert Kilogramm gewogen haben! Und die wurden nicht verbrannt! Das bedeutet: eine Sonderausstattung bei Sarg und Hemd, eine größere Gruft, mehr Gewicht für die Sargträger und umso größer die Gefahr, dass der Sarg einem von ihnen aus den Händen rutscht. Notfalls sind zwei Träger mehr von Nöten. Das erhöht natürlich die Kosten für die Beerdigung. Nur ein Träger mehr ginge ja nicht. Das wäre schlecht für die Verteilung des Sarggewichtes und für die Optik. Es müssen immer gleich viele Träger auf jeder Seite laufen. So muss es sein!«
Herr König wischte sich mit einem Stofftaschentuch, welches er aus seiner aufgeklafften Hosentasche zog, Schweiß von der Stirn.
»Wissen Sie, so ein Sargträger ist nicht unbedingt gleichzeitig Bauarbeiter oder so was. Nicht selten ist er ein schwächlicher Gelegenheitsarbeiter und dem Alkohol recht zugeneigt. Das heißt, der Gang ist auch nicht so sicher, wie er notwendigerweise sein sollte. Es ist mehr als einmal passiert, dass so ein Sarg jemandem aus der Hand gerutscht ist. Ich sage jetzt nicht, bei mir! Aber, das kommt vor! Das ist dann natürlich immer sehr dramatisch und peinlich. Die Angehörigen schreien entsetzt auf, der Pfarrer bekreuzigt sich, die Träger sind überfordert. So ein Träger – besonders, wenn es sich um Alkoholeinfluss handelte – wird natürlich nicht wieder angeheuert. Aber – es kommt vor!«
»Es kommt vor!«, wiederholte er, wieder mit dem Taschentuch an der Stirn. »Was ich aber eigentlich sagen wollte: Es ist alles viel einfacher, wenn man sich verbrennen lässt. Eine saubere Angelegenheit, sage ich Ihnen, und so überschaubar. Das Blumengesteck ist regelmäßig größer, als die Urne. Und man wird so leicht. Die Asche könnte der Wind mit sich tragen. Man könnte so federleicht zum guten Schluss mithilfe des Windes glatt noch eine Reise um die Welt machen.«
So schwärmte Herr König und er sah sehnsüchtig zum Fenster hinaus, als blickte er einem vorbeiwehenden Aschepartikel nach, welches sich auf dem Weg in ferne Länder anschickte.
Kein schlechter Gedanke, dachte Marvin. Vom Wind getragen, über die ganze Welt hinwegzuwehen. Er stellte sich vor, wie jedes seiner fliegenden Ascheteilchen mit allen Sinnen ausgestattet wäre und schwerelos über den Globus flöge. Sie würden über die Landschaften fliegen, an Orte, die er im Leben nie erreichen konnte. Über die Städte, zwischen Menschen und Häusern hindurch, in jeden Winkel dieser Welt. Er würde alles sehen und erfahren, unbemerkt von Menschen und Tieren. Unsichtbar für sie. Niemandem eine Beute, keiner Gefahr ausgesetzt. Nichts könnte ihn vernichten, kein Wind, kein Erdbeben, kein Feuer … Marvin stutzte, was war mit Regen?
»Was passiert eigentlich mit fliegender Asche, wenn es regnet?«, fragte er gedankenversunken.
Herr König überlegte. Er zog nachdenklich seine Mundwinkel nach unten, »Ich weiß nicht. Ich denke, sie fällt zu Boden und trocknet wieder. Vielleicht teilt sie sich auch noch weiter auf, bis sie so klein ist, dass nicht einmal die Regentropfen sie treffen können.«
Mikro-Aschepartikel also! In Gedanken sah Marvin sich nun noch kleiner, als solche Mikro-Aschepartikel, von einem Regentropfen zermalmt am Boden liegen, getrocknet und dann aufgeteilt in weitere Teile. Jetzt nicht mehr als Asche fliegend, sondern eher als Staub. Ja, Staub, das war das Kleinste, was er sich noch vorstellen konnte. Aber Staub wird eingeatmet. Und was war mit Staubmilben? Also noch kleiner! Atomar, winzigst, unsichtbar – aber doch noch da! Warum nicht gleich nur noch Geist? Einfach nur Geist, niemand sieht ihn, niemand frisst ihn, freier Geist. Blöd nur, dass das Geistige, so wie die Asche, keine Augen zum Sehen hat und keine Hände zum Fühlen. Er würde seine Sinne vermissen. Aber waren es nicht gerade seine Sinne, die ihm auch alles Unangenehme vermittelten?
»Es gibt auch Begräbnisstätten, an denen man verstreut wird«, unterbrach Herr König Marvins Träume.
»Auch hier in Deutschland?«
»Aber sicher! Es gibt in unserer Gemeinde einen Friedhof, der einen solchen Platz anbietet – man nennt es Aschestreuwiese.« Herr König witterte sofort das Interesse aus Marvins Gesichtsausdruck.
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