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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Anflug von Mitmenschlichkeit, erstorben im harten Tonfall ihrer Stimme. An einen eiskalten Engel erinnerte sie ihn nun wieder, der ihm nur so lange half, wie dafür bezahlt wurde. Das bisschen Menschlichkeit war so schnell verflogen, wie es aufgetaucht war. Wozu brauchte er sie? Für das Verschreiben von Schmerzmitteln? Ihre Ratschläge brauchte er jedenfalls nicht.
Marvins wilde Entschlossenheit, den Wald aufzusuchen, gipfelte – er merkte es selber – in einer Art Besessenheit von dem Baum. Er brauchte ihn, sah ihn bereits vor Augen, mächtig, unumstößlich, majestätisch – eine Eiche, Hunderte von Jahren überdauernd. Ein Baum zum Festhalten, jedem Sturm trotzend. Er wollte ihn suchen, finden und danach so schnell wie möglich nach Hause, wieder raus aus dem Krankenhaus, sich einfach nur in sein eigenes Bett legen, in sein eigenes Bettzeug kuscheln, nicht in irgendeins. Und er wollte keine Besucher mehr empfangen! Schluss damit! Endlich gab es wieder etwas Handfestes, für das es sich anzustrengen lohnte. Endlich wieder ein Ziel! Nicht ins Hospiz, in den Wald wollte er gehen, ob es Lisa nun passte oder nicht. Er machte Theater, er wusste es, aber die Wiedererlangung verlorengeglaubter Kräfte gab ihm recht.
Auf einmal klappte alles viel besser. Es begann damit, dass er morgens aufwachte und nicht in einem Liter Urin schwamm. Als befreiten die Gedanken an eine kleine erfreuliche Zukunft seine Nervenbahnen, gewann der rechte Arm etwas Kraft zurück. Die linke Seite entkrampfte sich nicht ganz, aber spürbar, und schließlich fand sich Marvin in der Lage, immer mehr Handgriffe wieder selbstständig durchzuführen. Zuerst bemerkte nur er es, doch irgendwann glaubten es auch die Ärzte.
Ein neues MRT wurde anberaumt. Marvin war zuversichtlich, als er dieses Mal in der Röhre lag und dann bestätigten die Krankenhausärzte, was er hören wollte: Das Wachstum des Tumors stoppte nicht nur – nein, der Primärtumor hatte sich sogar verkleinert. Die Chemo schlug endlich an, sagten die Ärzte, doch Marvin wusste, es war allein sein Wille, der das verursachte. Heimlich im Bett heulte er. Es ging bergauf, wenn auch nur leicht, wenn auch nur vorübergehend. Er bekam das wertvollste Geschenk, das er sich vorstellen konnte – Zeit.
»Wollen Sie denn unter diesen Umständen noch den Baum aussuchen?«, fragte Herr König, den er vor Freude anrief.
Marvin überlegte nicht lange. »Ich muss diesen Baum aussuchen, so oder so! Dieser Baum verlängert mein Leben!«
Sie verabredeten einen Termin für ihren Besuch im Friedhofswald. Herr König wollte ihn mit einem Transporter abholen kommen und Lisa musste ihn mit Karl zusammen begleiten, ob sie wollte oder nicht.

Karl holte ihn ab, kurz nachdem die Putzfrau sein Zimmer betreten hatte. Er schob Marvin den Krankenhausgang entlang in Richtung Fahrstuhl. Ausgerechnet heute funktionierten seine Beine nicht wie gewünscht. Doch Marvin ignorierte es, denn nun sollte er sein persönliches Ziel direkt vor Augen sehen - den Baum!
Kaum waren sie am Schwesternzimmer vorbei, hörte man hinter ihnen die Putzfrau etwas zu ihrer Kollegin rufen. »Jetzt werfen die hier schon Pornohefte weg! Guck dir das mal an! Richtig alte Speckschinken!«
Marvin zog den Kopf ein und hoffte, dass Karl sich nicht umdrehte.
Noch vor dem Fahrstuhl kam ihnen von weitem ein Mann im Rollstuhl entgegengefahren. Es war ein manueller Rollstuhl, genau wie Marvins, und der andere Mann drehte mühsam und sichtlich angestrengt mit den Händen an den Rädern, um vorwärtszukommen. Niemand half ihm. Je näher er kam, desto mehr zog er Marvins Aufmerksamkeit auf sich. Von irgendwoher kannte er ihn, doch noch konnte er das Gesicht nicht erkennen.
Marvin ließ ihn nicht aus den Augen und so nahm das fremde Antlitz Meter für Meter deutlichere Konturen an. Es war wie ein Rätsel, bis sie sich schließlich gegenüberstanden, aufgrund der Rollstühle in gleicher Höhe. Jetzt endlich erkannte er Frederik wieder. Da saß er, obwohl er längst tot sein sollte. Marvin bedeutete Karl, zu stoppen.
Frederik lächelte ihn müde, aber erfreut an und hielt ihm die Hand zum Gruß hin.
»Wohin geht’s?«
Marvin reichte ihm die Rechte.
»Nach draußen! In einen Friedhofswald – und bald endlich wieder nach Hause.«
Frederik nickte zufrieden. »Gut so!«
»Und Sie? Was machen Sie hier im Krankenhaus?«
»Ich besuche meine Frau. Sie hatte einen Schlaganfall.«
Frederiks Miene schien unbeweglich, doch seine Augen glänzten merklich. Es war eine
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