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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Autoren: Heike Vullriede
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Übelkeit von gestern. Er winkte ab.
»Nehmen Sie wenigstens etwas Brot!«
Sie spielte ein extra trauriges Gesicht.
»Mir wird schon schlecht, wenn ich daran denke!«, sagte er und fügte schnell hinzu: »Nicht, wenn ich an Sie denke, natürlich. Wo Sie auftauchen, scheint sicher immer die Sonne.«
Elke lachte, herzlich und ein bisschen geniert. Auf seine Schmeichelei ging sie aber nicht wie gehofft ein, sondern klemmte das Tablett zwischen Arm und Brustkorb ein und mahnte mit erhobenem Zeigefinger: »Sie müssen aber viel trinken. Das ist ein ärztlicher Befehl! Vielleicht mögen Sie ja gleich noch essen.«
Suppenteller und Brot ließ sie auf seinem Schränkchen zurück.
»Solche Strenge passt aber gar nicht zu einer so hübschen Frau!«, charmierte er hinter ihr her. Sie überging es lächelnd. Es machte immer noch Spaß, ein wenig zu schäkern, trotz seines Unwohlseins.
Kaum war sie draußen, stichelte sein Nachbar: »Na – uns geht's ja wieder besser!«
Sein Zimmergenosse, selbst Mann und ebenfalls wohl noch nicht krank genug, durchschaute sein Flirtspiel natürlich.
»Es gibt Körperteile, die sterben zuletzt.«
Chauvinistisch schmunzelten sie beide.
Ja, es ging ihm heute wieder gut genug, um sich als Mann zu fühlen. Aber insgeheim fürchtete Marvin zum ersten Mal in seinem Leben, dass es ihm eines Tages egal sein könnte, wie eine junge hübsche Frau über ihn dachte. War es nicht gestern schon so gewesen, als sie ihn ins Bett gehievt hatten? War Krankheit nicht schrecklich unerotisch, ein zerfallender Körper unattraktiv, ein gelähmter Geist reizlos? Vielleicht erinnerte Solches ja an das Ende des Betrachters selbst, weshalb man es nicht mit ansehen mochte. Oder aber, es war ein Zwangsgedanke im Sinne der Evolution.
Marvin hielt es jedenfalls für ein gutes Zeichen, sein Bedürfnis zu schäkern noch nicht verloren zu haben. Er lehnte sich zurück und dachte an zärtliche Stunden mit Lisa. Sie waren ausnahmslos schön gewesen. Nur öfter hätte es sein können, für ihn jedenfalls. Ob es stimmte, dass ein Mann alle paar Minuten an Erotik dachte, wie manche sagten? Er sah sich nicht als „Sexprotz“. Dennoch war es für ihn kein Problem, von einem Moment zum anderen an Sex zu denken. Selbst, wenn er sich am Arbeitsplatz mit einer schwierigen Fragestellung beschäftigte, fiel es ihm ohne Übergang leicht, sich zwischendurch auf die warmen Schenkel seiner Frau am Abend zu freuen. In seinem Fall sollten sie wohl recht behalten, die Forscher, welche behaupteten, dem Mann gingen im Laufe der Evolution die Instinkte nicht verloren. Wie ein dauerbrünstiger Eber würde er seine Gene verteilen, wenn ihn nicht die Treue an seine geliebte Lisa knüpfte.
Die Gedanken angefüllt mit Ebern und Frauen, träumte sich Marvin – mehr oder weniger sitzend – über den Mittag hinweg.

Ein Nickerchen später stand plötzlich Besuch vor seinem Bett. Das Klopfen an der Tür war ihm entgangen, doch das laute ›Herein!‹ seines Bettnachbarn – Marvin vermied es neuerdings, ihn gedanklich „Schnarchsack“ zu nennen – riss ihn aus seinem Tagschlaf. Er brauchte eine Weile, bis er seinen Bruder erkannte. Der hielt Blumen in der Hand – so, wie man eine Bierflasche in der Hand hielt – und beim Grüßen schwang er sie achtlos hoch und runter. Ein paar der zarten Blütenblätter schlugen gegen das Bettende und rissen ab. Sein ›kleiner‹ Bruder Bastian, im Gegensatz zu ihm groß, breitschultrig und laut, ragte wie ein Turm über der Bettkante auf und verdunkelte ihm, mitsamt seiner abgewetzten Lederjacke, die Sicht. Basti war keinesfalls dick, doch das Bett erschütterte unter dem Gewicht seines angelehnten Körpers.
»Hey! Was machst du denn für Sachen, Mensch? Ganz schön dünn bist du geworden!«
Marvin stemmte sich hoch, um aufrechter zu sitzen. Erfreulicherweise in der Zwischenzeit vom Tropf abgenommen, musste er wenigstens nicht mit diesem elenden Schlauch kämpfen.
»Tja, da habe ich auch nicht mit gerechnet. Ich nehme an, Lisa hat dir von diesem Tumor erzählt, den man zufällig in meinem Kopf gefunden hat. Es ist ein sogenanntes Glioblastom. Das ist so ein Tumor, der …«
»Da hast du ja voll die Scheiße am Hals!«
Marvin hielt inne. Für ›Scheiße am Hals‹ fühlte er sich nicht locker genug gestimmt. Die übliche saloppe Ausdrucksweise seines Bruders schien ihm dieses Mal besonders unangebracht. Trotzdem sagte er nichts dazu. Basti würde es sowieso nicht verstehen. Was verstand der schon von Krankheit?
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