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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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mich zum frischen Wasser.
    Er erquicket meine Seele.
    (…)
    denn Du bist bei mir,
    Dein Stecken und Stab trösten mich.
    (…)
    Nach dem »Stecken und Stab«, von dem ich übrigens keine Ahnung hatte, was es bedeuten sollte, schweiftenmeine Gedanken wieder ab. Vater nahm dann, weil er schon dabei war, Psalm 24, 25, 26 und 27 auch noch mit. Da waren meine Gedanken bereits mit anderen Dingen beschäftigt. Das letzte Wort, das würde schon klappen.
     
    Vorn in der Kirche steht der Sarg mit den sterblichen Überresten des Mannes, der mein Vater war. Ich gehe vor und stelle mich ans Mikrofon. Eine Rede zu halten, das ist nicht so einfach. Meine Stimme droht immer wieder ins Stocken zu geraten, ich habe das Gefühl, mit einer Schubkarre in einen großen Sandhaufen zu fahren.
    »Mein Vater war mein Vater«, sage ich.
    »Mein Vater war mein Freund.«
    »Mein Vater war mein Kind.«
    Über seine einfachen und gut gemeinten Ratschläge fürs Leben rede ich.
    »Wenn ich ein Buch kaufte, sagte Vater: ›Junge, du hast schon so viele Bücher!‹«
    »Wenn ich eine Hose kaufte, sagte Vater: ›Junge, du hast schon so viele Hosen!‹«
    »An seinen fast verzweifelten Versuchen, mich durch gute Ratschläge vor Unheil zu schützen, hielt er bis zum Ende seines Lebens fest. Aber weil er die ganzen Jahre über stets das Gleiche gesagt hatte, hörte ich nicht mehr hin. Aber du hattest recht, Vater. Geld auszugeben ist viel einfacher, als es zu verdienen.«
     
    Der Friedhof. Der knirschende Kies. Meine Neffen und Nichten tragen den Sarg. Das Schilfrohrgesteck reist mit.
    Auf diesem Friedhof in Nieuwdorp liegen auch Onkel Merien, Opa, Oma und Onkel Bram begraben. Die Stelle, wo mein Vater beerdigt wird, liegt zehn Meter von Onkel Meriens Grab entfernt. Aber Onkel Merien liegt eine Etage tiefer. Denn im Jahr 1970 wurde der Teil des Friedhofs, in dem Onkel Merien liegt, aufgestockt. Damit eine weitere Schicht Toter Platz fände. Sein Grabstein wurde entfernt, seine sterblichen Überreste blieben liegen. Vater war darüber zornig geworden. »Sie können den Grabstein ja in Ihrem Garten aufstellen«, hatte der Gemeindebeamte vorgeschlagen. »Mit so etwas fangen wir gar nicht erst an«, hatte Mutter gesagt.
     
    Das Wetter ist unwirtlich und leicht stürmisch, aber es hat endlich aufgehört zu regnen.
     
    Der Pfarrer steht am Sarg und betet das Vaterunser. Es gibt sogar eine richtige Verstärkeranlage. Die Schilfrohre stehen in einem hübschen Regenschirmbehälter aus Kupfer. Es weht ziemlich stark, der Behälter droht umzufallen, aber mein Bruder sieht es und stützt ihn mit seinem Bein ab.
     
    Und dann, der entscheidende Augenblick. Der Sarg sinkt in die Erde. Tief in den seeländischen Lehm. DerBestatter reicht jedem Anwesenden einen Halm. Sein Berufsethos ist rührend, er steht da, als könnte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Brav wirft jeder seinen Halm in das Grab. Das ist gar nicht so einfach bei dem Wind. Nicht alle Anwesenden werfen einen Halm, es gibt mehr Menschen als Halme. (Das hättest du sehen sollen, Vater, die Kirche war voller Leute.)
     
    Mein Vater, unter Schilfrohr begraben.

SPATZ
    Einige Monate nach Vaters Tod gibt Mutter mir eine Plastiktüte mit Vaters Tagebüchern. Sie händigt mir auch eine Schachtel mit Beileidskarten und Briefen aus, anlässlich des Todes von Onkel Merien, der 1936 im Alter von achtundzwanzig Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückte. Die Durchsicht der Tagebücher habe ich so lange wie möglich vor mir hergeschoben. Ich habe sie gelesen, weil es für das Schreiben dieses Buches notwendig war.
    Die Schachtel mit Beileidskarten und Briefen. Was soll ich damit? Onkel Merien ist zehn Jahre vor meiner Geburt verunglückt. Was war er für ein Mensch? Ich weiß es nicht, Vater hat nie darüber gesprochen.
    Die Schachtel ist voller Beileidskarten und Briefe. Karten in einem Format, wie es heutzutage nicht mehr üblich ist, sehr klein und länglich. Die Briefe sind von Familienangehörigen, Bekannten und Bauern. Von guten Bauern und schlechten Bauern. Die Beweise von Mitleidsind für Vater, Oma, Opa und Onkel Bram sicherlich ein Trost gewesen. Das Lesen der Beileidsbezeugungen stimmt mich traurig. Vaters Trauer wird zu meiner. Ich spüre den Schock, seine Erschütterung, seine Schuldgefühle. Es gibt auch ein Foto von Onkel Merien, ein Porträt. Ein hübscher junger Mann mit dunklen Haaren und ernstem Blick. Haben die Menschen damals immer so ernst ausgesehen, wenn sie fotografiert
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