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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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Hinterzimmer ist quadratisch. In der Mitte steht ein quadratischer Tisch. Diesen Tisch habe ich beschwert und an den vier Seiten ein Geländer aus Besenstielen angebracht. Der Tisch ist Vaters Bake, sein Halt. Auch sein Bett steht jetzt im Hinterzimmer. Es geht Vater nämlich immer schlechter. Er hat abgenommen und bekommt immer schlechter Luft. Er ist in sein Hörbuch vertieft und nickt langsam und gleichmäßig mit dem Kopf. Das hat letztes Jahr angefangen, dieses Nicken. Vielleicht eine Nebenwirkung des Medikaments? Es stört ihn nicht, er weiß nicht einmal, dass er es tut.
    Plötzlich steht er auf und will laufen. Aber er hat den Kopfhörer noch auf und zieht den Kassettenrekorder mit. »Halt, Vater, du hängst fest!«. Ich nehme ihm den Kopfhörer ab und mache den Kassettenrekorder aus. Erhält sich erst an der Holzschiene am Tisch fest, dann an dem Handlauf, der an der Wand befestigt ist, und geht in eine Zimmerecke. Dort steht eine Holzvorrichtung mit einem Eimer auf Pinkelhöhe. Eine selbstgebastelte Zimmertoilette. Als er wieder im Stuhl sitzt, setze ich ihm den Kopfhörer auf und drücke auf
play
. Bald lauscht er wieder der Hörbuchgeschichte, vergnügt nickend. Manchmal erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht. Und dann, nach einer Weile, hört das Nicken auf. Er ist eingeschlafen. Die Kassette dreht sich weiter. Bis sie mit einem »Klick« stehen bleibt und Vater aus dem Schlaf reißt.

JESUS AUF DEN WELLEN
    Es ist Morgen, Vater sitzt auf der Bettkante. Ich wasche sein Gesicht und seine Arme. Seine Brust, seinen Bauch, seinen Rücken. Ich trockne ihn ab und ziehe ihm ein kurzärmeliges Hemd an. Es ist ein vorgewärmtes Hemd, es hing über der Heizung. »Das ist schön«, sagt Vater. Er steht auf, hält sich am Besenstielgeländer des Tisches fest. Er bleibt stehen, während ich die untere Hälfte seines Körpers wasche. Er geniert sich. »Ich war Krankenpfleger«, sage ich, »ich habe Hunderte alter Männer gewaschen.« Vater lässt sich herabsinken, bis er wieder auf dem Bett sitzt. Ich wasche seine Füße. Sie sind geschwollen, vom Wasser. Ich helfe ihm in seine lange Unterhose und ziehe ihm die Bündchen seiner langen schwarzen Wollsocken über die weißen Beine der langen Unterhose. Ich kleide ihn weiter an. Die Hose, das Hemd. Die Pantoffeln. Er schaut proper aus. Wir gehen in die Küche. Ich laufe hinter ihm, halte ihn unter den Armen fest. Ich trage ihn fast, aber er berührtgerade noch den Boden, sodass er noch das Gefühl hat, selbstständig zu gehen. Fast schwebend, wie Jesus auf den Wellen, bewegt er sich in die Küche. Er hat einen festen Platz am Küchenfenster und schaut hinaus. Wie er das schon seit achtundfünfzig Jahren tut. Immer dieselbe Aussicht auf das weite Land. Ein Anblick, der nie gleich ist. Denn der Himmel verändert sich ständig und die Pflanzen auf dem Land zeigen auf ihre Art, wie es ihnen geht. Vater schaut hinaus, sogar lange, aber er sieht nichts mehr. Ganz verschwommen vielleicht? »Rinus«, sagt er, »was für ein Wetter haben wir?«

DER MANN MIT DEM HASEN
    Es ist noch früh am Abend, als plötzlich ein Mann mit einem Hasen zu Besuch kommt. Ich will Vater ins Bett helfen, denn er ist müde und erschöpft. Jedes Jahr im November bekommt Vater einen Hasen geschenkt, weil Jäger sein Land zum Jagen benutzen dürfen. Oft habe ich mich deswegen mit Vater gestritten, mir ist alles zuwider, was mit der Jagd zu tun hat. Der Jäger bietet Vater den Hasen an. Vater nimmt das tote Tier an den Hinterpfoten, das Gewicht des armen Tieres lässt seinen mageren Arm schwanken. »Kolossal«, ruft Vater begeistert, »kolossal, so einen schweren Hasen hatte ich noch nie!« Seine große Hand umklammert die Hinterpfoten, er versucht, den Hasen hochzuhalten, muss ihn aber bald sinken lassen. Nun liegt das Tier der Länge nach auf dem Tisch, mit offenen Augen.
    »Kolossal«, ruft Vater noch einmal und begreift nicht, dass der Hase so schwer ist, weil er selbst so schwach ist, sein Arm so kraftlos.
    Auch als der Jäger fortgegangen ist, kann Vater, aufgeregt, wie er ist, noch nicht von dem Hasen lassen. Ich muss sofort einen Bekannten anrufen, der sich auf die Kunst des Hasenschlachtens versteht, und ich soll dem Tier einen Strick um die Hinterpfoten binden und es an einem Balken im Schuppen aufhängen.
    Als ich Vater kurz danach ins Bett bringe, ist er sehr erschöpft. Und wieder erschrecke ich, als ich sehe, wie mager er geworden ist, kein Gramm Fett hat er mehr am Leib. Ich kann seine
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