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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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auf. Er konnte nicht mehr lesen, was er schrieb. Seine letzte Hoffnung galt einer Augenoperation. Die würde vielleicht wieder das Lichtin seine Augen zurückbringen. Die Operation misslang, es traten verhängnisvolle Komplikationen auf. Vater war jetzt praktisch blind.
    Am 8.   September schrieb er noch eine verzweifelte Notiz in sein Tagebuch. Sie steht dort wie ein Schrei, eine Anklage. Geschrieben mit dickem schwarzem Filzstift. Sie ist unleserlich. Auch für mich. Vaters Tagebuch war für immer geschlossen.

DEPRESSION
    Mit dem Verlust seines Augenlichts schien Vater auch das Leben zu verlieren. Wie ein bösartiges Tier, das seine Chance erkennt, nistete sich eine Depression in seinem Körper und seinem Geist ein.
     
    Juni 1992
     
    Heute Morgen hat Vater stundenlang auf seinem Stuhl gesessen und mit seinen blinden Augen vor sich hin gestarrt. Er hat nichts gesagt, oder doch: »Ich hab Probleme mit der Zeit. Ich kriege die Zeit nicht rum.«
    Er ist klar, sein Verstand funktioniert. Aber er scheint in einer anderen Welt zu leben. Als stünde er schon mit einem Bein im Grab und würde von dort aus das Leben betrachten. Als hätte alles für ihn keine Bedeutung mehr. Er hat vom Doktor Antidepressiva bekommen, aber die haben eine gegenteilige Wirkung. Nachts liegt er wach und sieht manchmal seltsame Bilder. Schlangenmit Schnurrbärten und missgebildete Kinderköpfe. Dann steigt er aus dem Bett und läuft im Zimmer auf und ab. Die Medikamente nimmt er nicht mehr.
    Heute Morgen hat er Mutter gegenüber seinen Selbstmord angekündigt. Er hat ihr sogar gesagt, wie er es tun würde. Mutter erzählt es mir weinend, während Vater daneben sitzt. Er hört es sich an, emotionslos, widerspricht ihr nicht, sagt nicht: »Ach komm, so schlimm ist es doch nicht.« In seinen schlechten Momenten sieht er sehr weiß aus. Blutloses Gehirn, blutlose Depression. Keine wirkliche Trauer, keine Tränen. Ein nicht fassbarer Schmerz. Ein Schmerz, den man nicht beschreiben kann. Er erzählt, dass es in seinem Kopf sitzt und sehr schlimm ist. »Nur euretwegen tue ich es nicht«, sagt er und meint seinen Selbstmord.
    Er kann stundenlang vor sich hinstarren.
    »Ich hab Probleme mit der Zeit«, sagt er.
    Er sagt es aus einer Tiefe heraus, die nur er kennt.
    Weil er sich darin befindet. Als stünde er mit dem Rücken zu einem tiefen Graben. Noch ein Schritt, und er stürzt hinein. Wussten wir, dass er so dicht am Rand stand?
    »Ich hab Probleme mit der Zeit.«
    »Ich krieg die Zeit nicht rum.«
    »Er denkt wieder an Merien«, sagt Mutter.
     
    Immer wieder Onkel Merien. Dieser Unfall. Wie schlimm das war. Und dass es seine Schuld war.

 
    August 1992
     
    Einen Monat später. In der Tagesstätte für Senioren in Lewedorp warte ich auf meinen Vater. Jeden Dienstag und Donnerstag verbringt er hier den Tag. Ich fahre ihn morgens hin und hole ihn abends wieder ab. Unter der Leitung von Rianca, der Leiterin der Tagesstätte, werden hier zehn Senioren den ganzen Tag lang beschäftigt. Rianca liest ihnen die Zeitung vor, macht mit ihnen Spiele.
    Ich warte vor der geschlossenen Tür. Ich höre die Leute sprechen, ich höre die Stimme meines Vaters. Er erzählt von früher. Seine Erzählungen werden ab und zu durch Gelächter unterbrochen. »Ich höre jetzt auf«, höre ich ihn sagen. »Denn ich rede viel zu viel.« »Nein«, sagt Rianca, »du sollst nicht aufhören, du sollst weiterreden. Wir finden es toll, was du erzählst.«
     
    Nach dem Abendessen sagt Vater: »Rinus, mach doch noch mal ein Buch an.«
    Ich nehme die Schachtel mit Kassetten aus der Bücherei, greife eine heraus und stecke sie in den Rekorder.
    »›Das Eselchen‹ heißt die Geschichte«, sage ich, »sie wurde von Cyriel Buysse geschrieben, einem Belgier.« Ich setze Vater den Kopfhörer auf und starte den Rekorder. Schon bald ist er in das Buch vertieft. Manchmal lächelt er, ab und zu grinst er. Bis er nach einer Dreiviertelstunde verstört hochschaut, weil die Dame plötzlich mit dem Vorlesen aufgehört hat. »Rinus«, sagt er, »dreh doch mal das Band um.«
    Aufmerksamkeit, auch wenn sie nur einer Frau gilt, die auf einer Kassette ein Buch vorliest. Und er muss reden können, erzählen. Seine Stimmbänder müssen vibrieren. Aufmerksamkeit, vibrierende Stimmbänder.
    Ist es denn wirklich so, dass die Depression, das Tier, das nicht aushält?

PLAY
    Vater sitzt auf seinem Stuhl im Hinterzimmer. Mit dem Kopfhörer hört er sich ein Hörbuch aus der Blindenbibliothek an. Das
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