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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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ich. »So weit oben. Ist das nicht zu gefährlich?« »Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagt Vater, »ich muss nur den Draht wieder festmachen.«
    Wir legen die Leiter an das Dach und hängen sie mit Haken am Schilfrohr fest. Aber es ist so hoch, dass wir noch eine Leiter vom Bauern ausleihen müssen, um so weit hinaufzugelangen. Vater nimmt seine Kombizange, eine Rolle Draht und steigt die Leiter hinauf. Ich sehe zu, wie er am Dach hinaufsteigt. Er geht langsam, macht immer wieder eine Pause. Je höher er kommt, umso mehr beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Ich mache mir Sorgen, habe Angst, dass er fallen wird. Vater steigt von der einen Leiter auf die andere. Scheint etwas verunsichert. Ich verfluche mich. Wie habe ich in Gottes Namen zulassen können, dass mein alter Vater, Lungenpatientobendrein, auf dieses hohe, steile Dach klettert? Ich will rufen, er solle runterkommen, traue mich aber nicht, weil ich fürchte, er würde dann bestimmt herunterfallen. Er steigt auf die letzte, höchste Sprosse. Mühsam. Hilflos schaue ich zu. Ich bin mir jetzt sicher, er wird fallen und zerschmettert vor meinen Füßen liegen. Vater erreicht den höchsten Punkt, die richtige Stelle. Er fummelt ein bisschen mit dem Eisendraht herum. Mit der flachen Hand klopft er die Reetoberfläche wieder glatt. Er ist fertig. Wirft die Rolle Eisendraht herunter, sie taumelt über das Dach. Vater tritt den Rückweg an. Keuchend steigt er herunter. Kommt wohlbehalten unten an. Ich schaue ihn an, er sieht blass aus. Eine Träne rollt über seine Wange. »Das war das letzte Mal«, sage ich. »Ja«, sagt er tonlos, »das war das letzte Mal.«
     
    Ein- oder zweimal im Jahr fällt mein Vater vom Dach. Das passiert in meinen Träumen. Diese Albträume kehren immer wieder, bis heute. Wie ein Kinofilm, der wegen seines großen Erfolgs verlängert wird. Vater, der vom Dach fällt. Er sitzt hoch oben auf dem Reetdach eines großen seeländischen Bauernhofes. Ein Fehltritt, ein Fehlgriff. Er klammert sich noch an das Schilf, und mit einer Handvoll Schilf saust er herunter. Immer schneller. Ich warte unten auf meinen Vater, der seinem Tod entgegenstürzt. Ich weiß nicht, welchem Schicksal ich es verdanke, dass ich immer aus dem Schlaf gerissen werde, bevor mein Vater auf dem Boden aufprallt.

DAS TAGEBUCH
    Als Vater fünfundsechzig war, fing er an, eine Art Tagebuch zu schreiben. Es war ein Taschenkalender, in den er anfangs ausschließlich kurze Notizen zu seiner Arbeit schrieb.
     
    3.   Aug. 1978:
Dachdeckerarbeiten Bauernhof Koeman Wolfaartsdijk. 4   Stunden gearbeitet. 45   Schilfrohrbündel. 5   kg Draht Nr.   8
.
     
    Später fing er auch an, Bemerkungen über das Wetter zu machen.
     
    6.   Jan. 1985:
Tiefer Frost. Nachmittags Schnee. Strenger Winter
.
     
    Ab 1986 fügte er persönliche Gedanken hinzu. Die Taschenkalender wurden bald zu klein, Mutter kaufte ihm größere Kalender. Es war kein geheimes Tagebuch,es lag zur Ansicht auf dem Fensterbrett in der Küche. Jeder, der wollte, konnte von dem, was ihn berührte, Kenntnis nehmen. Wahrscheinlich war das auch seine Absicht. Wir sollten über sein Glück und (vor allem) Unglück informiert sein, wir sollten seine Sorgen teilen.
    Ich schaute ab und zu in seine Tagebücher, aber nicht oft und immer mit einer gewissen Zurückhaltung. Ich hatte Angst, auf Passagen zu stoßen, die von mir handelten. Seinem jüngsten Sohn, seinem Sorgenkind ungeachtet seines Alters. Der Sohn, der immer nicht erwachsen und glücklich werden wollte, immer noch nicht wusste, was er im Leben wollte, der keine Arbeit und keine Frau nach seinem Herzen finden konnte, der nicht mit Geld umgehen konnte und dabei auch noch dauernd über seine Gesundheit klagte und deshalb alternative Heiler aufsuchte, bis in die entferntesten Winkel des Landes, weil normale Ärzte bei ihm nichts finden konnten. »Was ist denn ein Mensch, der nicht arbeitet!«, hatte Vater oft verzweifelt zu mir gesagt, wenn ich wieder einmal gekündigt hatte, ohne bereits eine neue Arbeit zu haben. Vater war ein Mensch, der arbeitete. Auch wenn er schon lange in Rente war und sein Körper zu knirschen anfing. Die Klagen über seinen körperlichen Verfall konnte er nicht für sich behalten. In einfachen und düsteren Worten landeten sie in seinem Tagebuch.
    Das Tagebuch war zu einem Teil von ihm geworden. Es lag immer an derselben Stelle auf der Fensterbank in der Küche.
    Achtlos, und dennoch: Wir konnten es nicht übersehen. Es gehörte dorthin wie die
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